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Die Jahre mit Laura Diaz

Die Jahre mit Laura Diaz

Titel: Die Jahre mit Laura Diaz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Fuentes
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Vergangenheit – woher kam er, wer waren seine Eltern, warum verriet er nie etwas über seine Herkunft?
    »Ich habe immer gewußt, daß ich äußerlich stark und innerlich schwach bin. Das wußte ich schon als ganz junger Mann. Deshalb habe ich mir solche Mühe gegeben, vor der Welt stark zu erscheinen. Besonders vor dir. Weil ich schon als Kind meine inneren Ängste und Schwächen kannte. Hast du von Demosthenes gehört, wie er sein schüchternes Stottern überwand, indem er so lange am Meeresufer entlanglief, bis er mit seiner Stimme das Wellenrauschen zu übertönen vermochte und zum berühmtesten öffentlichen Redner Griechenlands wurde? So ist es mir ergangen. Ich habe mich stark gemacht, weil ich schwach war. Was du jedoch nie wissen kannst, Laura: Wie lange du die Angst besiegen wirst. Denn die Angst ist heimtückisch, und wenn die Welt dir Geschenke macht, um die Angst zu beruhigen – Geld, Macht oder Lust, alles oder eines, darauf kommt es nicht an –, es hilft nichts: Dann bist du dankbar, daß die Welt Mitgefühl mit dir hat, und du opferst die Kraft, die du gewonnen hattest, als dir nichts gehörte, der falschen Kraft der Welt, und die Schwäche überwindet dich ganz, fast ohne daß du es merkst… Wenn du mir hilfst, kann ich vielleicht ein Gleichgewicht erreichen, dann bin ich nicht mehr so stark, wie du geglaubt hast, als du mich kennenlerntest, aber auch nicht so schwach, wie ich dir vorgekommen bin, als du von mir weggegangen bist.«
    Sie wollte nicht darüber streiten, wer wen verlassen hatte. Wenn er sich hartnäckig weiter für den Verlassenen halten wollte, würde sie sich mitfühlend damit abfinden, ihn diese Rolle spielen zu lassen, und sie würde der Versuchung widerstehen, den Respekt vor ihm noch mehr zu verlieren. Dafür würde er alle ihre Wahrheiten aushaken müssen, selbst die grausamsten, das aber nicht aus Grausamkeit, sondern damit sie fortan in der Wahrheit lebten, so unangenehm sie auch sein mochte, vor allem, Danton und Santiago brauchten eine Familie ohne Lügen. Laura dachte an Leticia und wollte wie sie sein, die Gabe haben, alles zu verstehen, ohne unnötige Worte zu machen.
    Nach ihrer Rückkehr aus Xalapa hatte sie Frida Kahlo die chinesische Puppe gebracht. Das Haus in Coyoacan war leer. Laura ging in den Garten und rief laut: »Ist jemand zu Hause?«, und ihr antwortete die leise Stimme eines Dienstmädchens: »Nein, Señorita, es ist keiner da.« Die beiden waren immer noch in New York, und Rivera arbeitete an den Fresken im Rockefeller Center. Laura setzte Li Po auf Fridas Bett und wollte keine zusätzliche Nachricht, nichts weiter hinterlassen. Frida würde verstehen: Es war Lauras Geschenk für das verlorene Kind. Sie versuchte sich die strahlend elfenbeinfarbene orientalische Puppe inmitten des tropischen Dickichts vorzustellen, das bald ins Schlafzimmer hätte eindringen müssen: Affen, hatte Frida gesagt, Papageien, Schmetterlinge, haarlose Hunde, Ozelote und dicht verschlungene Lianen und Orchideen.
    Sie ließ die Kinder aus Xalapa kommen. Pflichtbewußt befolgten Santiago und Danton die genauen praktischen Anweisungen ihrer Großmutter und fuhren allein im Interoceanico bis zum Bahnhof Buenavista, wo Laura und Juan Francisco auf sie warteten. Die Art der Jungen, die Laura bereits kannte, war für Juan Francisco eine Überraschung, allerdings auch für Laura, weil beide Kinder ihre so unterschiedlichen Persönlichkeiten schnell und immer deutlicher ausprägten. Danton war witzig und dreist, gab seinen Eltern zwei hastige Küsse auf die Wangen und lief los, um sich Süßigkeiten zu kaufen, wobei er laut sagte: »Wozu hat Großmutter uns Geld gegeben, wenn's im Zug keine Schokolade und keine Lutscher gibt, obwohl, sie hat sowieso nur ganz wenig rausgerückt.« Und unverzüglich rannte er zu einem Zeitungsstand weiter und verlangte die letzten Nummern von »Pepin« und »Chamaco Chico«, doch als er feststellte, daß er dafür nicht genug Geld hatte, kaufte er lediglich das neueste Heft von »Die Superklugen«. Als Juan Francisco die Hand in die Tasche steckte, um die Zeitschriften zu bezahlen, hielt Laura ihn zurück. Danton drehte ihnen den Rücken zu und lief auf die Straße, allen voraus.
    Santiago dagegen begrüßte seine Eltern mit einem Händedruck, er bewahrte eine unüberwindliche Distanz und vereitelte jeden Versuch, geküßt zu werden. Dafür ließ er zu, daß ihm Laura die Hand auf die Schulter legte und den Weg zum Ausgang wies, und er fand auch nichts

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