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Die Jangada

Die Jangada

Titel: Die Jangada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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sechs Monate.
    Als die Bitte der Seinigen ihn dann besiegt und er zu der Fahrt auf dem Amazonenstrome zugestimmt hatte, meldete er das dem Richter Ribeiro.
    »Binnen zwei Monaten, so lauteten seine Worte, werde ich mich bei Ihnen einfinden und dem ersten Beamten der Provinz bedingungslos zur Verfügung stellen.
    – So kommen Sie!« antwortete Ribeiro.
    Die Jangada lag jener Zeit schon bereit, die Reise anzutreten. Joam Garral schiffte sich darauf mit seinen Angehörigen, mit Dienern, Bootsleuten und deren Frauen ein. Im Verlaufe der Fahrt ging er zur Verwunderung seiner Gattin und seines Sohnes nur sehr selten an’s Land. Meist verschloß er sich in sein Zimmer, schrieb und arbeitete, nicht in Handlungsbüchern oder Rechnungen, sondern an dem von ihm bisher vor jedem Auge verborgen gehaltenen Memoire, das er die »Geschichte meines Lebens« nannte, und welche er bei Aufnahme seines Processes eingeben wollte.
    Acht Tage vor seiner zweiten, auf Torres’ Denunciation hin erfolgten Verhaftung hatte er, aus Besorgniß, Jener könnte ihm zuvorkommen und seine Absichten vereiteln, einem Indianer ein Schreiben an Ribeiro anvertraut, in welchem er dem Oberrichter der Provinz seine binnen acht Tagen bevorstehende Ankunft anmeldete.
    Der Brief ging ab, erreichte auch glücklich seine Adresse, und der Beamte wartete nur noch auf Joam Dacosta selbst, um die Untersuchung des schwierigen, Falles, die er jetzt doch zu glücklichem Ausgange zu führen hoffte, wieder aufzunehmen.
    Die letzte Nacht vor der Landung der Jangada bei Manao traf den Richter Ribeiro ein Schlaganfall. Die Denunciation Torres’ aber, dessen Tauschgeschäft an der ehrenhaften Weigerung seines Opfers scheiterte, hatte zunächst den erwünschten Erfolg. Joam Dacosta wurde mitten aus dem Schoße seiner Familie weg verhaftet und hatte nun nicht einmal mehr seinen alten Advocaten, um von diesem vertheidigt zu werden.
    O, das war freilich ein entsetzlicher Schlag! Doch, der Würfel war einmal gefallen, an Rückzug war nicht mehr zu denken.
    Joam Dacosta beugte sich also unter dem Schlage, der ihn so unerwartet traf. Jetzt stand nicht allein mehr seine Ehre, sondern auch die aller seiner Angehörigen auf dem Spiele.
Viertes Capitel.
Moralische Beweise.
    Der gegen Joam Dacosta, genannt Joam Garral, erlassene Haftbefehl war von dem Vertreter des Richters Ribeiro ausgefertigt, der die Function dieses Beamten in der Provinz Amazonas bis zur Ernennung eines Nachfolgers zu versehen hatte.
    Dieser Stellvertreter hieß Vicente Jarriquez. Er war ein kleiner barscher Mann, den vierzig Jahre richterlicher Thätigkeit nicht eben wohlwollend gegen Angeklagte gestimmt hatten. Nachdem er so viele Criminalfälle unter den Händen gehabt, so viele Verbrecher verhört und verurtheilt, erschien ihm die Annahme, daß ein Angeklagte, wer das auch wäre, unschuldig sein könne,
a priori
unzulässig. Er verurtheilte zwar gewiß nicht gegen seine Ueberzeugung, aber diese im Voraus feststehende Ueberzeugung ließ sich nicht so leicht durch die Ergebnisse des Verhörs oder die Beweisgründe der Vertheidigung erschüttern. Wie so viele Vorsitzende von Assisenhöfen, widersetzte auch er sich gern der oft beobachteten Milde der Jury, und wenn ein Angeklagter, nachdem er glücklich dem Fegefeuer der Kreuzverhöre, der unerwarteten Fragestellung u. s. w. entgangen war, vor ihm erschien, so betrachtete er ihn anfänglich gewiß eher für zehnfach schuldig als für schuldlos.
    Ein böser Mensch war dieser Jarriquez indeß nicht, aber nervös, unruhig, wortreich, listig und scharfsinnig, überhaupt sonderbar anzusehen mit seinem großen Kopfe auf dem kleinen Körper, dem wildzerzausten Haare, den wie mit einem Bohrer ausgehöhlten Augen, aus denen die Blicke wie spitzige Pfeile hervorschossen, mit der weitvorragenden Nase, mit der er gewiß gesticulirt hätte, wenn sie sonst beweglich gewesen wäre, mit seinen zwei abstehenden Ohren, welche geschaffen schienen, sogar das aufzufangen, was außer der gewöhnlichen Tragweite menschlicher Hörwerkzeuge vorging, mit den unausgesetzt auf die Tafel trommelnden Fingern – so als wenn ein Pianist sich auf dem stummen Clavier übte – mit dem für die kurzen Beine viel zu langgemessenen Oberkörper, und den Füßen, die er einmal um das andere kreuzweise übereinanderschlug und wieder lang ausstreckte, wenn er auf dem Richterstuhle saß.
    In seinem Privatleben ein verhärteter Hagestolz, verließ der Richter Jarriquez seine juristischen, Folianten

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