Die Judas-Papiere
Gesichtern von Byron und Harriet zeigten sich amüsierte Mienen.
Sie alle hatte nun eine heitere Stimmung erfasst. Keiner zweifelte daran, dass Ägypten die letzte Station auf ihrer Suche nach dem Ju das-Evangelium war. Hier musste ihre wochenlange abenteuerliche Reise ihr Ende finden. Deshalb waren sie zuversichtlich, nach eini gem weiteren Kopfzerbrechen schließlich auch noch die letzten Rät sel und Codes zu entschlüsseln.
»Kein Wunder, dass Mortimer dieses Hotel als Nobelzelt der Cooknomaden bezeichnet hat!«, sagte Harriet, als sie den Meidan Kantaret el-Dikkeh, einen dreieckigen Platz mit einer gleichfalls dreieckigen Gartenanlage in seiner Mitte, passiert hatten und das lang ge streckte, palastartige Gebäude des Shepheard’s vor ihnen auftauchte. Das berühmte Hotel war früher tatsächlich einmal ein fürstlicher Pa last gewesen. Ein kurzes Stück weiter die Allee hinunter fiel der Blick auf einen großen Park, den Garten el-Ezbekija.
»Und gleich nebenan befindet sich die örtliche Niederlassung von Thomas Cook!«, sagte Byron und deutete auf das dem Hotelpalast vor gelagerte Eckhaus, über dessen Portal das Firmenschild der briti schen Reiseagentur hing.
Eine große Terrasse mit vielen einzelnen Sitzgruppen, die zum Teil im Schatten weit gespannter Sonnensegel lagen und durch schwere Blumenkübel mit mannshohen Stechpalmen voneinander getrennt wurden, zog sich hinter einem schmiedeeisernen Geländer an der Vorderfront entlang. Ein gutes Dutzend Stufen führte vom Gehsteig zur Terrasse hinauf und sorgte für eine nachdrückliche Trennung der feinen Welt oben von der gewöhnlichen Welt unten auf dem Boulevard.
Oben, das war der Treffpunkt einer finanzkräftigen und bunten Schar internationaler Gäste, die sich hier zum High-Tea oder zu ei nem Drink in den Korbsesseln und Liegen niedergelassen hatte. Bri tische Offiziere in makellos schnittiger Uniform, den Helm auf den Knien und den Brandy in der Hand; gelangweilte junge Engländerin nen im Reitdress; nordische Touristen mit Feldstechern, bildungs hungrig in ihre Lektüre über die Pharaonenkultur vertieft; eine Grup pe von Männern, die, nach ihrer Kleidung und den mit Erde be schmutzten Stiefeln zu urteilen, von einem Polospiel kamen; eine Tischrunde mit amerikanischen Geschäftsleuten, die munter Ginfizz tranken und den Abend kaum stehend erleben würden; vornehme Bankiers fortgeschrittenen Alters, die in der Zeitung die Börsenno tierungen studierten und so förmlich gekleidet waren, als kämen sie geradewegs aus der Londoner City.
Die Kutsche hielt vor dem Hoteleingang und sofort waren orientalisch livrierte Diener zur Stelle, um sich ihres Gepäcks anzunehmen. Derweil bot ein Eseltreiber Horatio Haschisch an, während ein ande rer Straßenhändler Byron mit verschwörerischem Geflüster ansprach und ihm einen garantiert echten Pharaonenkopf aufschwatzen wollte. Er ließ sich so schwer abschütteln wie eine Klette, und wenn ihm der Portier nicht mit Hieben und der Polizei gedroht hätte, wäre ihnen der aufdringliche Kerl womöglich noch bis in die Hotelhalle gefolgt.
Während das äußere Bild des Shepheard’s schon beeindruckend war, nahm das Innere auch einem luxusverwöhnten Ankömmling, der zum ersten Mal seinen Fuß in das Hotel setzte, fast den Atem.
Die Eingangshalle mit ihren der pharaonischen Baukunst nach empfundenen mächtigen Säulen spiegelte die in Europa grassieren de Ägyptomanie wider. Sie war mit rosa Marmor ausgestattet, der einen starken Kontrast zu dem dunklen Parkettfußboden mit seinen vielen ausgelegten Teppichen bildete, und Arabesken sowie Mosai ken aus kleinen Steinen schmückten die oberen Teile der Wände. Maurische Rundbögen, die in ihrer Mitte oben spitz zuliefen, führten von der Halle in die angrenzenden Räume.
»Ich habe ja nichts gegen gute Hotels, weiß Gott nicht!«, murmelte Horatio beim Anblick dieser überbordenden Darstellung von ägyp tisch-maurischer Baukunst. »Aber musste es denn ausgerechnet ein Palast wie aus Tausendundeiner Nacht sein?«
»Wieso? Ich finde es nett hier«, erwiderte Alistair. »Wir sollten gleich mal fragen, wo es hier zum Harem für die Gäste geht. Sag mir Bescheid, wenn du einen Eunuchen siehst! Der kennt den Weg bestimmt.«
Harriet verdrehte nur die Augen.
Auch Byron ging nicht auf den derben Scherz ein, sondern sagte zu Horatio: »Mir liegt an dem protzigen Prunk auch nichts. Aber Morti mers Spur führt eindeutig in dieses Hotel. Das Shepheard’s gilt als das erste
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