Die jungen Rebellen
zur Uniform des Konvikts, eine Art Zierklinge aus Blech. Tibor stieß erst in der vierten Klasse zu ihnen, als sein Vater, der Oberst, hierher versetzt wurde. Ábel besuchte überhaupt erst seit der dritten eine öffentliche Schule; vorher bekam er im Elternhaus Privatunterricht.
In der vierten Klasse waren sie fünfzig Kinder. Bis zur Matura schmolz ihre Zahl auf siebzehn zusammen. Der Krieg, über den sie nie sprachen, so als ob es ihn gar nicht gäbe, schlug auch in diesem hintersten Winkel des Lebens, wie ihn diese Gymnasialklasse einer Provinzstadt darstellte, unsichtbar zu. Bei Kriegsbeginn besuchten sie die fünfte Klasse und waren noch fünfzig. Viele sind einfach verlorengegangen. Die Bauernbuben mußten heim, um den Vater zu ersetzen. Die Eltern anderer konnten das Schulgeld nicht mehr aufbringen. Manche sind auch weggeblieben, ohne daß man wußte, warum. Vielleicht waren sie krank. Viele starben, und man begleitete sie mit der trauerflorgeschmückten Schulfahne und unter kläglichem Chorgesang hinaus.
In diesen Jahren sollen an der Front eine Million Menschen den Tod gefunden haben, vielleicht auch zwei Millionen. Manche meinten sogar, drei. Sie hier lebten tief und verborgen zwischen den Bergen, weit hinter dem Kriegsgeschehen. Die Stadt ruhte, gewissermaßen ins Steckkissen gepackt und auf Linnen gebettet, in der Stille. Der Krieg sickerte zu ihnen nur durch Kapillargefäße herein. Umgekehrt wurde durch diese Haarröhrchen, unter dem Druck irgendeiner unsichtbaren Riesenpumpe, das Leben aus der Stadt gesaugt. Nach und nach verbreitete sich jedoch auch hier, wie eine Art verpestetes Gas, der Odem des Krieges, der noch genügend Kraft hatte, die Glieder zu lahmen, die Lungen zu versengen und die Schwächeren zugrunde zu richten. Man konnte nicht sagen, daß der eine oder andere Schüler Opfer des Krieges geworden wäre. Aber morgen werden sich beim Photographen nur mehr siebzehn Klassenkameraden zum Gruppenbild aufstellen.
Zwei Jahre lang, bis zur siebten Klasse, nahmen sich die Mitglieder der späteren Clique gegenseitig kaum zur Kenntnis. Sie lebten jeder für sich, nebeneinander, Tibor frönte seiner Sportleidenschaft, Ábel der Literatur, Ernő war völlig mit Lernen beschäftigt. Schwer zu sagen, was es ist, das die Menschen verbindet, besonders in ganz jungen Jahren, wenn sich Freundschaften noch nicht aufgrund von Zweckmäßigkeiten und Interessen anbahnen. Man kann nicht behaupten, daß die Mitglieder der Clique sich von irgendeinem Zeitpunkt an mochten. Nicht einmal, daß sie miteinander sympathisierten. Béla saß in der letzten Bank und gehörte über Jahre zum unteren Durchschnitt der Klasse; mehr als ein paar Worte hat er mit Ábel oder Tibor kaum gewechselt. Ábel versuchte gelegentlich, sich Ernő zu nähern, aber stets bekam er einen kleinen Rempler, erfuhr eine schwer zu beschreibende, sanfte Zurückweisung, die ihn für längere Zeit dem Sohn des Flickschusters entfremdete. Gemeinhin ist es nicht Sympathie, die Menschen zusammenführt. Es ist viel mehr ein fast peinliches und schmerzhaftes Gefühl, wenn zwei Menschen spüren, daß sie zusammenkommen müssen.
Ábel saß drei Jahre in der Mitte der dritten Bankreihe auf der Türseite. Ernő s Platz war hinter ihm, Tibor saß rechts in der ersten Bank. Drei Jahre lang war das die Sitzordnung. Einmal, zu Anfang des vierten Jahres, starrte Ábel in der Physikstunde gelangweilt in die Gegend, ließ dann seinen Blick die Bankreihen entlangschweifen und blieb an Tibor hängen, der gleichmütig und abwesend, den Kopf in die Handflächen gestützt, unter der Bank etwas las. Man kann nicht sagen, daß es ein starker Schlag gewesen wäre, den er verspürte, und auch nicht, daß irgendeine wundersame Flamme in ihm entzündet wurde. Was Ábel empfand, war eher so etwas wie Langeweile, er wandte den Blick ab, schaute in eine andere Richtung. Die Überraschung begann, als er merkte, daß er gar nicht mehr woandershin schauen konnte. Er ließ die Augen über die Klasse wandern, die schläfrig döste, bemerkte am Fenster dicke bläuliche Herbstfliegen, die behäbig hochkrochen. Als ihm auffiel, daß Tibor seinen Blick auf sich zog, wandte er sich neugierig in seine Richtung. Vielleicht hatte der Junge etwas an sich, das ihm bisher entgangen war? Vielleicht sind seine Haare anders gekämmt, oder er trägt eine besondere Krawatte? Ábel musterte ihn aufmerksam, stellte aber nichts Auffallendes an ihm fest. Tibor hatte sich die Haare kurz scheren
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