Die jungen Rebellen
lassen, nach Soldatenart. Er saß da in einem khakifarbenen Anzug, trug dazu eine grüne Fliege und rieb sich zerstreut die Schläfen. Er las. Einmal langte er in seine Nase, holte etwas heraus und zerbröselte es, ohne darauf zu achten; mit der anderen Hand blätterte er unter der Bank weiter. Offensichtlich fesselte ihn das Buch. Wahrscheinlich las er ein Sportbuch, etwas über Pferde oder Fußball. Ábel beobachtete ihn interessiert und wußte sein Interesse nicht zu deuten. Er betrachtete seine Ohren, sie waren klein, lagen eng und spitz am Kopf an, Tibors Finger, die sich an die Schläfen schmiegten, erschienen hakenartig gekrümmt, die Form der Hand wirkte dennoch weich und rund. Er sah Tibors Nase, sein Gesicht im Viertelprofil. Es war scharf geschnitten, das sanftere Ebenbild des Obersten Prockauer, dreißig Jahre jünger und leicht sommersprossig. Ábel sah sich mit zusammengezogenen Brauen den Jungen genau an.
Später schien ihm, als wäre in diesen Minuten nur all das, was er über Tibor wußte und bei sich gespeichert hatte, sinnfällig geworden. So wußte er zum Beispiel längst, daß Tibor am Hals, da, wo seine blonden Haare in scharfem Bogen über dem obersten Brustwirbel zusammenliefen, Sommersprossen hatte. Als sei seine sehr weiße Haut von Fliegendreck beschmutzt.
Tibor rührte sich jetzt, schob das Buch ganz unter die Bank und blickte sich erstaunt um, wie einer, der gerade in die Welt zurückkehrt. Einen Moment lang sah Ábel nun seinen trotzigen Mund, der gequälte Langeweile verriet. Im selben Augenblick spürte er ein inneres Beben. Sogleich, ohne zu überlegen, sagte er sich: Er ist schön. So beschrieb er ihn für sich, mit diesen drei Wörtern. Tibor beugte sich vor, und jetzt sah Ábel nur noch seinen Scheitel, der zwischen ihnen sitzende Schüler verdeckte Tibor. Das erfüllte ihn mit einem solchen Schmerz, als habe man ihn gewaltsam eines unwiederbringlichen Anblicks beraubt. Er verspürte körperliche Pein, einen Verlust, wie ihn Hunde empfinden, wenn man ihnen mitten im Fressen den halbvollen Napf wegnimmt. Oder als ob ein Tunnel plötzlich die durchs Zugfenster genossene Herrlichkeit einer Landschaft unseren Blicken für immer entzieht. Am liebsten hätte er aufgeschrien vor Zorn und vor Schmerz. Er kämpfte mit den Tränen, rückte in seiner Bank zur Seite, hob sich etwas an und beugte sich vor, um Tibor sehen zu können, auf der Stelle, solange das Gefühl anhielt, denn vielleicht würde es im nächsten Augenblick zu spät sein. Und so war es.
Als sie sich in der Pause trafen, konnte er ihm schon ruhig, fast neugierig ins Gesicht blicken und stellte enttäuscht fest, daß er überhaupt nichts empfand. Doch als er allein war, am Nachmittag, in seinem Zimmer, an einer Zeichnung arbeitete, dann das Reißbrett zur Seite schob und sich an der Tuschfarbe zu schaffen machte, da überfiel ihn zwischen zwei Bewegungen das Gefühl wieder, stärker noch als am Vormittag. Es meldete sich mit solcher Heftigkeit zurück, daß ein schmerzender Ruck durch seinen Körper ging, er sich hochreckte, dann über den Tisch beugte. Er ist schön, rief er halblaut. Etwas Unfaßbares war das. Ein Glücksgefühl, wie man es sich auch nicht erträumen kann. Es hatte irgendeinen süßen Geschmack, und es ließ ihm die Augen feucht werden. Erschütterte den ganzen Körper. Er ist schön, Tibor ist schön, wiederholte er erschaudernd. Seine Hände waren kalt und zitterten. Er stand auf, lief ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Tränen rollten ihm über die Wangen, er wankte, hätte sich gern an etwas festgeklammert. Eine Sehnsucht nach Untergang überkam ihn. Schönheit, das ist das Größte. Größeres gibt es nicht. Mehr kann die Welt nicht geben. Die sanfte Welt, in der er gelebt hatte, bekam einen Sprung, ihr Inhalt floß aus, nackt stand er da, fror und bebte.
Eine Woche später war die Clique zusammen. Aus lockerer Materie formt sich in einem einzigen Augenblick ein Kristall, und man weiß nicht, welcher Prozeß dem vorausgegangen ist. Niemand weiß, was Menschen, die eben noch nichts voneinander ahnten, zusammentreibt, von einem Augenblick zum andern zusammenschweißt: enger als das Bewußtsein gemeinsamer Schuld, stärker als Liebe von Eltern zu ihren Kindern, von Verliebten, unerbittlicher als das Wissen um einen Mord. Von allen vier Ecken des Klassenzimmers strebten sie aufeinander zu, ungeduldig, hastig, als ob sie seit Jahren darauf gewartet und sich unendlich viel zu sagen hätten. Sie
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