Die jungen Rebellen
Spaziergang, sein steifer Hut hat seidigen Glanz, und vom hinteren Rand der Krempe baumelt eine Troddel. Exzellenz dankt nachdrücklich jedem, der grüßt. Der Bischof wacht früh auf, denn er ist ein betagter Herr, der schlecht schläft, schon im Morgengrauen steht er über das Pult gebeugt und schreibt in seiner winzigen Perlschrift. Im Ratskeller wird Wein ausgeschenkt, kalt wie das Mauerwerk. Das Gewölbe wurde aus Bruchsteinen zusammengefügt, hier tranken schon vor hundert Jahren die Polen. An den Wänden sind noch die Rauchspuren der Fackeln zu sehen. Die Luft ist erfüllt vom Geruch der feuchten Fässer, dem dichten, feinen Duft vergorenen Rebensafts und der Stearinkerzen.
Brotmarken. Sperrstunde. Endlos lange Züge rattern durch die Stadt, unentwegt, Garnituren von zweihundert oder dreihundert Meter Länge, der Diensthabende blickt gar nicht mehr auf, es sind Verwundetentransporte und Fronturlauberzüge; dieser Bahnhof ist als Erholungsstation eingerichtet, die Türen der Waggons werden für eine Stunde geöffnet, Karbol- und Jodoformgeruch strömt aus dem Innern, und große Stille. Der Geruch dringt bis in die Stadt ein und ist in Bahnhofsnähe besonders beißend. In großen Kübeln steht Kalk auf dem Bahnhofsgelände, nicht selten müssen die Reisenden aus einzelnen Waggons herausgehoben und mit Kalk bestäubt werden. Das dauert schon vier Jahre an –die Stadt hat sich daran gewöhnt, ebenso die Reisenden in diesen langen Zügen, besonders diejenigen, welche man mit Kalk bestreuen muß, weil sie so still sind. Die freiwilligen Damen der Stadt in ihren schneeweißen Umhängen mit dem roten Kreuz an Arm und Häubchen stehen längst nicht mehr am Bahnsteig der Erholung, adrett uniformiert wie die weißen Wachspuppen in den Hygieneauslagen der Kaufhäuser; bestenfalls sind noch zwei Sanitäter da, weniger adrett, und wenn sie eine Bahre herauszuheben haben, tun sie’s mit Schwung und einem »Hauruck«. Der Krieg ist weit weg von hier. Nur wie Flugasche eines fernen Großbrands fällt etwas vom Unrat des Krieges auf die Stadt. Das Kriegsgeschehen selbst hat nie bis hier heruntergereicht.
Anfangs kamen nur Telegramme, dann rollten Züge durch den Bahnhof, eine Volksschule wurde zum Spital umfunktioniert, auch das Ordenshaus hat man teilweise als Krankenstation eingerichtet, und mehrere Bürger der Stadt erhielten Orden für patriotisches Verhalten. Der Schreibwarenhändler hat im Schaufenster noch die Landkarten Rußlands und Frankreichs ausgehängt, doch der rührige, etwas dickliche alte Herr drückt nicht mehr jeden Morgen eigenhändig die Stecknadelfähnchen siegreicher Armeen der Zentralmächte in die Karten, er steckt sie überhaupt nicht mehr um, ein wenig ist er auch schon abgemagert, und um die Landkarten kümmert sich niemand. Die Stadt hat sich an den Krieg gewöhnt, man spricht nicht mehr darüber, reißt sich die Extrablätter der Lokalzeitung nicht aus den Händen, niemand rennt mehr zum Bahnhof, den ankommenden frischen Zeitungen aus der Hauptstadt entgegen. Die Stadt hat sich an diesen Krieg gewöhnt, wie man sich ans Alter gewöhnen muß oder an das Sterben und an alles in der Welt. Die Straßen sind nicht ganz sauber, viele Menschen tragen Trauer, bekannte Gesichter sind verschwunden, doch es ist nicht zu übersehen, daß auch ein gewisser Wohlstand auf den Trümmern blüht. Andernorts ist der Krieg ein Trichter mit wirbelndem Sand, vermengt mit Extremitäten, doch hier kann man am Vormittag im gepflegten Park dem Rechnungsrat im grauen Cutaway und in braunen Zugstiefeln begegnen oder, später am Tag, Mädchen, die vor vier Jahren noch Kinder waren und die heute als aufgeschossene junge Fräulein auf dem Korso flanieren und trotz des Krieges die Phantasie der Männer beschäftigen. Die Stadt war zu allen Zeiten klein, sauber und bunt, wie die Spielzeugstadt in einer Schachtel. Jetzt liegt viel Abfall in den Straßen, und die Fassaden der Häuser bröckeln. In den Schaufenstern der Kolonialwarenläden hängen Zettel, die die Ankunft von eingesalzenem Fisch ankündigen, aber das ist auch schon alles. An Litfaßsäulen blaue und gelbe Kundmachungen. Wem es gutgeht, der kann sich’s richten, auch jetzt. Nachmittags am Johannesplatz schlendert der Magistratsnotar mit seinem reinrassigen Vizsla zur Hühnerjagd am Fluß. Abends sitzen viele im Kino, und das Theater ist meist bis zum letzten Platz besetzt, wenn eine Operette auf dem Programm steht, in der Amadé Volpay seine Spaße reißt.
Ábel
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