Die Kaffeemeisterin
schon so lange nicht mehr als Konzertsaal gedient hatte. Seit er den fatalen Fehler begangen hatte, mit Rachel dorthin zu gehen, war er nicht mehr da gewesen. Die Erinnerung an Johanna Berger war hier unten einfach zu stark. So auch jetzt wieder. Wie dumm von ihm – er hätte sich denken können, dass es nur alte Wunden in ihm aufreißen würde, den Ort der Erinnerung aufzusuchen.
Der große, flache Stein, auf dem Johanna gesessen und ihm zugehört hatte, war von einem dicken Flatschen Vogeldreck verunziert. Auch das noch!, dachte Gabriel missmutig. Am liebsten hätte er einen Stein genommen und damit auf die dicke Möwe gezielt, die wenige Meter entfernt auf dem ausgedörrten Ufergras hockte und sich die Flügel putzte. Warum nur musste er jetzt wieder an die Kaffeehauswirtin denken? Ob seine Gefühle für sie niemals aufhören würden? Würde er sich in zehn Jahren mit einer Kinderschar um sich und Rachel an seiner Seite noch immer nach der rothaarigen Frau sehnen?
Gabriel seufzte. Wieder warf er einen Blick auf seine Uhr. Er musste sich beeilen. Sonst wären die Gäste nachher noch vor ihm da. Die Silhouette, die er vorhin auf Höhe des Gutleuthofes gesehen hatte, war tatsächlich das Mainschiff gewesen, das nun in raschem Tempo näher kam. Rachel war darauf, Rachel, seine Braut!
Als er das nächste Mal aus seinen Gedanken auftauchte, hatten ihn seine Beine fast bis zur Coffeemühle getragen. Irritiert drehte er sich um und bog ab in Richtung Judengasse. Kaum hatte er das Haus seiner Eltern erreicht, wurde er auch schon von Jehuda begrüßt, der just in dem Augenblick vor seinen Laden getreten war, die Ouvertüre der Söhne Abrahams vor sich hin pfeifend. Seit einiger Zeit war der Krämer dazu übergegangen, zusätzlich zu seinen üblichen Waren Obst und Gemüse zu verkaufen. Heute hatte er neben einigen Salatköpfen, die vor lauter Hitze schon halb verwelkt waren, auch ein paar große grü ne Kugeln im Angebot. Gabriel hatte diese seltsamen Früchte noch nie gesehen.
»Wassermelonen«, sagte Jehuda, der sein Erstaunen bemerkt hatte. »Sind gestern mit dem Schiff gekommen. Aus Konstantinopel, aber sie wachsen noch viel weiter unten im Süden. Man kann sie gut lagern, tief unten im Schiffsbauch, wo es schön kühl ist. Eine Rarität hierzulande. Vielleicht führe ich sie ein, mal sehen, wie die Nachfrage ist. Hier, probier mal, ist gut gegen Durst!«
Noch bevor Gabriel etwas erwidern konnte, hatte der Krämer bereits ein Messer aus den Tiefen seines Mantels hervorgekramt, die Melone halbiert und ein großes Stück aus der Frucht herausgesäbelt. Ein paar Tropfen fielen auf Gabriels schwarze Ausgehschuhe, als Jehuda ihm den riesigen Schnitz reichte.
Gabriel fühlte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie durstig er war. Herzhaft biss er mitten in die rote Frucht hinein.
»Sehr gut, Jehuda«, rief er mit vollem Mund, »ausgezeichnet! Bei dem Wetter kann ich mir kaum etwas Besseres vorstellen.«
»Genau das hat deine Mutter heute früh auch gesagt, als sie mir gleich fünf von den Dingern noch vom Karren weg abgekauft hat«, erwiderte Jehuda. Ein listiges Funkeln war in seine Augen getreten. »Ihr bekommt wohl heute Besuch, was?«
»Was hat sie dir erzählt?«, fragte Gabriel mürrisch.
Schlagartig war seine Stimmung, die sich dank des köstlichen Geschmacks in seinem Mund gehoben hatte, erneut auf dem Tiefpunkt angelangt. Der Saft der Melone lief ihm über die Hand und hinterließ eine klebrige Spur auf seiner Haut.
»Nun, dass heute ein großer Tag für dich ist«, begann Jehuda vorsichtig.
Gabriel nickte grimmig.
»Und was noch?«
»Na ja, dass ihr heute den Schtar Tna’im unterzeichnen werdet, diese hübsche junge Frau, die ich hier schon ein paarmal in deiner Begleitung gesehen habe« – er zwinkerte ihm zu – »und du. Ein Grund zur Freude, würde ich meinen! Sehnt sich nicht jeder Mann nach einem Weibe an seiner Seite? Und steht nicht auch in der Thora geschrieben, dass man fruchtbar sein und sich mehren sollte?«
»Ich bin mir einfach nicht sicher. Es ist ein so wichtiger Schritt, von dem mein ganzes zukünftiges Leben abhängt! Meine Mutter hat sie für mich ausgesucht«, erklärte Gabriel dem Krämer.
Schon immer hatte er Jehuda vertraut. Selbst als kleines Kind, lange vor dem Brand in der Judengasse, als sie noch nicht in einem Haus gewohnt hatten, war er oft bei dem Krämer im Laden gewesen und hatte ihm sein Herz ausgeschüttet.
»Das ist doch
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