Die kalte Koenigin

Schreie der Moms konnte man aus einem anderen Bereich der Zitadelle hören.
    »Rasch«, sagte sie, während wir am oberen Rand eines Turmes entlangkrochen. Sie schlang ihre Arme um meine Taille. »Aufwärts. Flieg nun los. Wenn ein Hengst schneller rennen kann, als sie fliegen können, dann kann ein geflügelter Teufel gewiss schneller fliegen als niedere Dämonen.«
     
    Meine Flügel sprossen aus meinen Schulterblättern, und ich konzentrierte meine Energie darauf, sie zu ihrer vollen Größe zu entfalten. Sie zitterten und falteten sich zusammen. Dann wölbten sie sich nach außen. Meine Flügel schlugen
nun langsam, aber kräftig. Obgleich mir ein Wächter, der auf die Spitze des Turmes eilte, mit seinem Schwert am Knöchel eine Schnittwunde zufügte, erhoben wir uns in die Luft und flogen in Richtung des Gießereirauchs.
    Ich warf einen Blick zurück und sah ein Dutzend Soldaten mit gezückten Schwertern, die die Türme entlangrannten und währenddessen Fackeln anzündeten. Bogenschützen auf den Wachttürmen spannten ihre Bogen, und ein Hagel aus Pfeilen flog über den sich verdunkelnden Himmel.
    Zum ersten Mal sah ich durch den schwarzen Rauch hindurch, der von dem Hof unter uns heraufquoll, die ungeheure Größe dieses Schlosses, das Enora und der Alchimist erbaut hatten. Es verfügte über eine strahlend weiße Mauer, die sich bis zum Horizont erstreckte. Überall an ihrem Rand gab es Bogenschützen, Wachen und riesige Bottiche, die dazu genutzt werden konnten, siedendes Öl auf jeden Angreifer niederprasseln zu lassen. Ich hörte, wie Pfeile vorbeischwirrten, als die Bogenschützen wieder und wieder auf uns schossen. Ich wurde zweimal in die Schenkel getroffen, zwang aber meine Flügel, mich immer weiter aufsteigen zu lassen. Und ich hielt Calyx unter meinem Körper fest, um sie so vor den Angriffen zu schützen. Dadurch fiel mir das Atmen zwar schwerer, aber dennoch gelang es mir, so weit in die Höhe zu steigen, dass wir sogar über die Pfeile hinwegfliegen konnten.
    Und dann hörte ich das Kreischen der Moms, als sie uns entdeckt hatten.
    Ich warf einen Blick nach hinten, um nach ihnen zu sehen. Sie wirkten wie ein Schwarm Raben vor dem rauchbedeckten Himmel, der rasch in unsere Richtung flog. Ich schlug mit den
Flügeln, um gegen den eisigen Wind anzukämpfen und so immer weiter auf den Wald zufliegen zu können.
    Als ich dann wieder die alte Kraft in mir fühlte, schnappte plötzlich ein Morn nach meinen Fersen. Calyx schrie vor Angst auf, und ich drückte sie fester an mich, während ich nach der Kraft in mir suchte – jener Fähigkeit unseres Stammes, uns so schnell zu bewegen, dass man nur eine verschwommene Bewegung auf der Erde oder am Himmel wahrnehmen kann.
    »Unter die Baumkronen!«, rief mir Calyx zu und erinnerte mich so an das schwache Sehvermögen der Moms.
    Als ich am Rande des Waldes zu Boden sank, weit vom Schloss entfernt, folgten sie uns noch immer. Aber sie wurden in ihren Angriffen immer langsamer. Als ich herabstieß und mich zwischen den Ästen und jenen schmalen Pfaden zwischen Eiche und Esche hindurchschlängelte, ließen ihre Versuche, mich zu packen, noch mehr nach. Aus einiger Entfernung hörte ich sie kreischen, doch ich war imstande, mir einen Weg durch den Wald zu bahnen, obwohl die scharfen Domenzweige an meiner Haut rissen. Mehr als einmal gelang es mir nur haarscharf, nicht gegen einen Baum zu prallen oder mit meinem Kopf gegen einen dicken Ast zu krachen.
    Bald hatte ich sie hinter mir gelassen, doch eine neue Gefahr folgte uns nun durch den Wald.
    Wir hörten das Heulen auf den Waldwegen.
    »Flieg zu den Klippen, jetzt sofort!«, rief Calyx, während sie sich wieder an mir festklammerte. Sie war mir so nahe, dass wir beinahe zu einem einzigen Wesen verschmolzen, als sich ihre Arme fest um mich schlangen und ihr Gesicht kaum noch von dem meinen entfernt war.
    Die gestaltwandelnden Wolfsfrauen hatten meine Fährte
aufgenommen, und bald heulten und jaulten sie, während sie uns jagten. Ich flog dicht über dem Boden. Dabei spürte ich ganz in unserer Nähe den heißen Atem ihrer Schnauzen und hörte ihr Keuchen, während sie rannten. Als ich mich, wenn auch nur kurz, umsah, hatte ich Angst, ich könnte gegen einen Baum fliegen, wenn ich nicht augenblicklich wieder nach vom sehen würde. Die Wölfe mit den Silberrücken kamen in großer Zahl. Aber ich wusste, dass es sich bei ihnen um die Frauen handelte, die ich in der Vision in den alten Steinkammem der Klausnerinnen