Die kalte Legende
ein Ding«, sagte Leroy. Er grinste Lincoln an. »Na los, Lincoln, lad Paura auf ein Bier an unseren Tisch ein. Wenn sie dir nicht gefällt, nehm ich sie.«
»Ich hab dir doch gesagt –«, setzte er an, doch Leroy hatte die Kellnerin bereits am Handgelenk gepackt. »Bestell der süßen Paura, sie soll ihren Hintern herbewegen.«
Die Kellnerin sprach lachend mit ihrer Freundin und ging dann zurück an die Bar. Paura, einen riesigen Joint zwischen zwei Fingern der linken Hand, drehte langsam den Kopf und taxierte die beiden Männer am Tisch, dann tanzte sie weiter – doch jeder schlurfende Schritt brachte sie weiter in den hinteren Teil des Lokals. Sie tanzte sogar noch, als die Platte zu Ende war, bis sie sich schließlich wie ein Blatt in einer schwachen Brise direkt neben dem Tisch hin und her wiegte, während Don’t Worry, Be Happy wieder einsetzte. »Ich wette, sie hat gesagt, ich heiße Paura.«
»Ja, hat sie«, bestätigte Leroy.
»Sie kriegt das nie richtig hin.« Die Frau sprach mit einem leichten italienischen Akzent. »An manchen Tagen bin ich Paura. An anderen bin ich Lucia. Heute ist ein Lucia-Tag.«
Lincoln, der genauso ein Faible für Legenden hatte wie für Schusswaffen, fragte: »Sind das verschiedene Namen für dieselbe Person oder für zwei verschiedene Menschen?«
Lucia musterte Lincoln, um abzuschätzen, ob er sich über sie lustig machte. Als sie sah, dass er es ernst meinte, antwortete sie: »Die sind so verschieden wie Tag und Nacht. Lucia ist der Tag. Ihr Name bedeutet Licht. Sonnenschein und Tageslicht füllen ihr Herz, sie ist dankbar, dass sie am Leben ist und lebt in den Tag hinein. Was morgen ist, interessiert sie nicht. Sie gibt jedem, der bezahlt, was er möchte, für sie ist es eine Frage des Prinzips, dass ein Freier auf seine Kosten kommt. Sie gibt die Hälfte ihres Verdienstes an ihren Zuhälter ab, sogar vom Trinkgeld.«
»Und Paura? Wie ist die so?«
»Paura ist die Nacht. Ihr Name bedeutet im Italienischen ›Angst‹. Alles an ihr hat mit Angst zu tun – sie hat Angst vor ihrem Schatten am Tag, Angst vor der Dunkelheit in der Nacht, Angst vor den Freiern, die den Gürtel abnehmen, bevor sie die Hose ausziehen. Sie hat Angst vor Swimmingpools. Sie hat Angst, das Leben auf der Erde könnte zu Ende sein, bevor der nächste Tag anbricht, Angst, es könnte niemals zu Ende sein.« Sie blickte Lincoln mit ihren großen Augen an. »Soll ich dir aus der Hand lesen? Ich kann dir sagen, an welchem Wochentag dein Leben zu Ende geht.«
Lincoln lehnte höflich ab. »Ich habe keine sichtbare Lebenslinie«, sagte er.
Die Frau versuchte es anders. »Was bist du für ein Sternzeichen?«
Lincoln schüttelte den Kopf. »Ich bin Sternzeichenatheist. Ich kenne mein Sternzeichen nicht und will es auch gar nicht kennen.«
»Damit bleibt uns nicht mehr viel außer Tanzen«, sagte Lucia und wiegte den Körper wieder sanft zu der Musik. Als sie eine Hand ausstreckte, rutschte ihr die hauchdünne Bluse so weit von der Schulter, dass der Warzenhof an einer Brust zum Vorschein kam.
»Die hat sie nicht alle«, murmelte Leroy. »Aber sie ist auf jeden Fall scharf auf dich.«
»Ich habe ein lahmes Bein«, sagte Lincoln zu der Frau.
»Jetzt lass sie nicht länger warten«, drängte Leroy. »Herrje, beim Tanzen kannst du dir nun wirklich nichts einfangen.« Als Lincoln noch immer zögerte, trat er ihm unter dem Tisch gegen den Knöchel.
»Ein Gentleman bist du jedenfalls nicht, Lincoln, das steht fest.«
Lincoln verzog das Gesicht, zuckte die Achseln und stand auf. Die Italienerin nahm eine seiner großen Hände und zog ihn hinkend in die Mitte des Raumes, wo sie sich umdrehte und ihren Joint auf den Dielenbrettern austrat, bevor sie sich an ihn schmiegte, ihm beide Arme um den Hals schlang und an seinem Ohrläppchen knabberte.
Leroy schlug vor Begeisterung klatschend mit der Hand auf den Tisch.
Lincoln war ein guter Tänzer. Er schonte sein lahmes Bein und verfiel in einen seltsamen Dreierschritt, während sich seine Partnerin weiter eng an seinen drahtigen Körper schmiegte und die anderen Frauen an der Bar bewundernd zuschauten.
Nach einer Weile flüsterte Lucia Lincoln ins Ohr. »Du musst mir deinen Namen nicht verraten, wenn du nicht willst. Würde auch nichts ändern, wenn du es tätest – hier benutzt keiner seinen richtigen Namen.«
»Ich heiße Lincoln.«
»Vor- oder Nachname?«
»Vorname.«
»Ist das dein Name bei Tage oder in der Nacht?«
Lincoln musste schmunzeln. »Sowohl
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