Die Kalte Sofie
Stutenbissigkeit weiterzukommen, hatte sie sich jedenfalls geschnitten.
Tatsächlich gelang es Sofie, auch im weiteren Verlauf der Sektion den Mund zu halten. Die vollständige Erhebung des Knochenstatus anhand der entnommenen Brustorgane bestätigte das abschließende Ergebnis.
»Die in den Augenlid- und Bindehäuten sowie in der Mundschleimhaut feststellbaren Einblutungen und Vertrocknungen sowie die Einblutungen im Lungen- und Herzaußenfell sind als gravierendes Indiz für einen Erstickungsmechanismus zu werten. Gegebenenfalls können die Rippenfrakturen auch als zusätzliche Komponente hinsichtlich einer Thorax-Kompression interpretiert werden …«
Für einen Moment schien Elke Falks Stimme leicht zu zittern, als sie den endgültigen Befund ins Diktafon sprach. Von Nuscheln keine Spur mehr.
Aber natürlich auch kein einziges lobendes Wort zur erfolgreich gemeisterten Sektion und deren überraschenden Erkenntnissen.
Schlaue Großnichte, dachte Sofie, während sie aus ihrer Montur schlüpfte und sorgfältig die Hände reinigte. Von wegen Herzversagen! Stattdessen wieder mal einer jener Todesfälle, der in den Statistiken als »natürlich« durchgegangen wäre, hätte da nicht jemand die Augen aufgehabt. Damit landete die Akte Hinterstoißer, entgegen Falks Einschätzung, nicht in Ablage P, sondern war ab sofort Sache der Mordkommission – möglicherweise sogar eines gewissen Herrn Lederer. Sollte der sich mal hübsch die blendend weißen Zähne daran ausbeißen.
Hauptsache, er hielt sich auf Abstand.
Aufatmend steuerte Sofie die Teeküche an, um sich, wenn schon keinen Kaffee, so doch wenigstens ein Glas Wasser zu genehmigen, als sie erneut die ihr inzwischen nur allzu bekannte frostige Stimme im Nacken hörte.
»Bedaure, Frau Rosenhuth. Aber wie es aussieht, werden Sie Ihre Pause noch etwas verschieben müssen.«
Stirnrunzelnd drehte Sofie sich zu ihrer Kollegin um.
»Ich habe gerade einen Anruf von der Haunerschen Kinderklinik bekommen. Irgendeine akute Tox-Geschichte. Die Kollegen kommen da wohl nicht allein weiter. Peanuts, wenn Sie mich fragen. Außerdem bin ich hier bis über beide Ohren eingespannt, und ein Fahrradkurier kostet auch nur Geld. Holen Sie die Proben doch gleich selbst dort ab. Sind ja nur ein paar Schritte von hier.«
Ergeben stellte Sofie ihr Glas ab und bot dem eisblauen Iglu-Blick grinsend Paroli.
»Holen Sie die Proben doch bitte gleich selbst dort ab, Frau Kollegin. So viel Zeit muss sein. Und jetzt mach ich mich auf die Socken.«
9
Alles im Griff
S ofie hatte wie gewohnt aufs Fahrrad steigen wollen, um in die Haunersche Kinderklinik zu fahren, sich dann aber auf die alte Abkürzung besonnen, die sie früher so oft genommen hatte. Nur die Straße vor dem Institut für Rechtsmedizin überqueren, in das große Tor einbiegen, und sie war wieder in dem verwinkelten Areal angelangt, das die Lebenden von den Toten trennte. Rechts von ihr lag die Psychiatrie, dann kam das alte Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern. Seit mehr als einem Jahrzehnt beherbergte es nun schon die Medizinische Bibliothek, in deren Lesesaal sie während des Studiums unzählige Stunden verbracht hatte.
Plötzlich war alles wieder so präsent, als sei es erst gestern gewesen: die vielen Abende, an denen sie abgekämpft und aufgedreht zugleich nach Hause gekommen war, um einen muffigen, wortkargen Ehemann vorzufinden, der offensichtlich immer weniger Lust hatte, sich ihre neuesten Erkenntnisse anzuhören – bis die Wohnung immer öfter dunkel gewesen und Joe erst in den frühen Morgenstunden mit einer ziemlichen Fahne zurückgekehrt war.
Sofie beschleunigte ihre Schritte.
Sie waren auseinander. Für immer. Und das war gut so!
Niemals wieder wollte sie diesen stechenden Schmerz spüren müssen, das hatte sie sich fest vorgenommen. Wahrscheinlich hatte die Beziehung zu Erik in Berlin sowieso nie eine echte Chance gehabt. Seit dem Bruch mit Joe war ihr Herz von einer dicken Schutzschicht eingehüllt, durch die so schnell keiner mehr kommen würde, so viel war gewiss.
Und generell: Wozu brauchte sie überhaupt einen Kerl?
Sie war wieder daheim, hatte eine schnuckelige Wohnung, ihre Tante Vroni – und die erste spannende Aufgabe.
Der Eingang zur Kinderklinik war frisch renoviert, und doch verströmte das altehrwürdige Gebäude den Charme des neunzehnten Jahrhunderts. Die Mauern waren massiv, die Räume hoch, und den gräulichen Bodenbelag, den auch neu angebrachte gelbe Seitenstreifen kaum weniger
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