Die Kalte Sofie
Falk zuckte leicht genervt mit den Achseln. »Jedenfalls hat der Bursche für den gestrigen Abend kein Alibi, schreibt der ermittelnde Beamte. Was mich im Übrigen auch nicht weiter interessiert. Wir sind hier schließlich in der Rechtsmedizin und nicht im Mordkommissariat. Unsere Aufgabe ist es, die Todesursache zu diagnostizieren. Und die scheint mir eindeutig zu sein.«
Dass die Diagnose, die sie hier im Lauf der nächsten Stunde stellen würden, nicht zuletzt auch über Schuld oder aber Un schuld eines Menschen entscheiden würde, schien die werte Kollegin hingegen kaltzulassen.
Sofie räusperte sich.
»Sie tippen also auf Kältetod?«, hakte sie nach.
»Selbstverständlich. Was denn sonst!«, schnappte Dr. Falk zurück.
»Dann frage ich mich allerdings, weshalb der Mann vollständig angezogen ist.«
Kälteidiotie – so lautet der eher unfreundliche, dennoch passende Fachbegriff für die bei Absinken der Körperkerntemperatur unter 32 Grad auftretenden Halluzinationen und paradoxen Wärmegefühle. Sie führen in der Regel dazu, dass die Unterkühlten sich vor Eintritt der Bewusstlosigkeit entkleiden – und verleiten Ermittler beim Auffinden von Kälteopfern oft dazu, ein Sexualverbrechen zu vermuten.
Ein Verdacht, der in diesem Fall eher auszuschließen war. Dennoch geriet Dr. Falk für einen kurzen Moment aus dem Konzept.
»Fehlende Kälteidiotie ist noch kein Ausschlusskriterium für Kältetod. Das wissen Sie ja wohl ebenso gut wie ich. Zumindest haben wir aufgrund der uns bekannten Fakten vorerst keinen Anlass, eine andere Todesursache in Betracht zu ziehen.« Indigniert presste sie die perfekt geschwungenen Lippen zusammen. »Aber bitte. Wenn es Sie beruhigt, Frau Rosenhuth, fangen wir jetzt einfach mal an!«
Sorgfältig schnitten Sofie und Spike die noch klamme Klei dung auf, jedes einzelne Stück wurde gewissenhaft dokumentiert, bevor es in einen Papiersack zur eventuellen späteren Untersuchung wanderte.
Es folgte die genaue äußere Begutachtung des nun unbekleideten Körpers: Kopf, Hals, Brustkorb, Bauchdecke, äußeres Genitale, Analregion, Extremitäten, schließlich der Rücken.
Hellrote Totenflecken – ja. Was lediglich bewies, dass der Körper für längere Zeit hoher Kälte ausgesetzt gewesen war, ob der Metzgermeister in diesem Zeitraum noch gelebt hatte, hingegen nicht. Darüber hätten etwa die bei Kältetod typischen grobfleckigen, geschwollenen, blau- oder scharlachrot gefärbten Hautbezirke an Ellenbogen, Knien, Händen oder Füßen Auskunft geben können – die in diesem Fall jedoch nirgends zu finden waren. Doch auch diese äußeren Unterkühlungsbefunde mussten nicht zwingend auftreten.
Was Sofie viel mehr wunderte: Der Körper des toten Metzger meisters wies keinerlei Kampfspuren auf. Auch nicht die sonst oft bis aufs Blut abgekratzten Fingernägel, mit denen Kälteopfer meist panisch versuchten, die Tür zur Freiheit zu öffnen. Und das, obwohl der Mann angeblich bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein in einen Kühlraum gesperrt worden war, wo er schließlich seinen letzten Atemzug getan hatte?
Es sei denn, sein Kompagnon hatte ihn zuvor mit irgendwelchen betäubenden Substanzen schachmatt gesetzt. In diesem Fall würde ihnen eine anschließende Analyse des Mageninhalts, vor allem aber des Schenkelvenenblutes vielleicht weiter Aufschluss geben.
Hoffentlich.
Auch Frau Dr. Falk schien ins Grübeln gekommen zu sein und warf Sofie und Spike ein unsicheres, etwas ungeduldiges Lächeln zu.
»Nach der Pneumothoraxprobe sollten wir uns dann am besten gleich als Erstes Brust- und Bauchhöhle zuwenden, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Sieh an! Die Falk zeigte ja direkt menschliche Regungen. Waren ihr inzwischen etwa auch Zweifel an der Diagnose »Kältetod« gekommen?
Behutsam schob Spike eine Stütze unter den Nacken und eine Art Bock unter den Rücken des Toten, sodass Schultern und Kopf nach hinten sanken, während die Brust sich nach oben wölbte. Dann setzte Sofie das Skalpell an: der erste Schnitt von der linken Schulter in bogenförmigem Zug zur rechten Schulter, der zweite beginnend am oberen Ende des Brustbeins bis hinunter zum Schamhügel. Anschließend spreizte sie die Schnitträn der, öffnete die Bauchdecke mit sägenden Schnitten, spannte den Schnittrand oberhalb der Rippen über ihrer Hand und trennte am Schluss mithilfe eines Messers Brusthaut und Muskulatur von den Rippen.
In angloamerikanischen Ländern als Y-Schnitt, in Deutschland eher als
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