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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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einschlägig wird. Im Übrigen: Sie versäumen sonst Ihre Verabredung.«
    Kordian von Aretin nickte und schaffte es mit einem weiteren Nicken, sich von der ganzen Runde gleichzeitig und trotzdem höflich zu verabschieden.
    »Der Mann hat immerhin Stil, meine Herren, und es würde mich nicht stören, wenn dieses Beispiel in unserer Partei Schule machen sollte.«
    »Xenia, du setzt auf die Liberalen. Aber Theoderich Pfeiffer will um jeden Preis an die Macht. Er könnte dich verraten«, sagte Zwicker.
    »Zwicker, Amsel, Fröhlich, reden wir Klartext. Es gibt also Unmut in der Union über meine Rolle als Parteivorsitzende. Schön. Dann trete ich zurück. Ich habe genug zu tun als Kanzlerin.«
    »Versteh uns nicht falsch …«, sagte Adi Fröhlich, verstummte aber sofort, als er die Blicke von Zwicker und Amsel sah.
    »Ich kann nur sagen, wie die Stimmung in der Fraktion ist«, sagte Zwicker.
    »Und ich kann nur sagen, wie meine Stimmung ist«, sagte die Kanzlerin: »verdorben.«
    Die Runde schwieg.
    »Und Theoderich würde sich niemals an einer Intrige gegen mich beteiligen.«
    Zwicker sagte: »Du musst kämpfen, Xenia. Als Parteichefin.«
    »Gegen wen?«
    »Für dich«, sagte Amsel. »Mit uns kannst du rechnen.«
    »Und mit wem nicht?«
    Die Runde schwieg, und die Kanzlerin sagte: »Aha. Wenn wir, die wir anderer Meinung sind, schweigen, dann kann ich ja, die ich mir noch nie in meinem Leben habe drohen lassen, jetzt gehen.«
    Sie stand auf, Caspers und ein zweiter Leibwächter nahmen sie »eng«, wie das so schön heisst, und die Kanzlerin sagte: »Na dann wollen wir mal sehen, was wir da machen können, mit mir.«

    »Sie checkt es nicht«, sagte Amsel.
    »Sie hat die Partei ruiniert«, sagte Zwicker.
    »Aber eine gute Kanzlerin ist sie trotzdem«, sagte Adi Fröhlich, hob sein Glas und prostete allen zu, was aber keiner am Tisch bemerkte.
    »Nach diesem Wahlkampf muss sie als Parteichefin abdanken«, sagte Zwicker.
    »Und nach dem ersten Streich«, sagte Amsel, »folgt bekanntlich bald der zweite.«
    »Sie hat es versiebt«, sagte Zwicker. »Sie hätte die Grünen anbinden müssen, vor einem Jahr. Aber sie wollte eine grossartige Kanzlerin sein und hat die Partei verhungern lassen. Und am Wahlabend werden die alle am Buffet stehen.«

M an ist, was man gewesen ist. Und wird, was man ist. Und ist, was man gewesen ist. Und wenn man sich daran nicht mehr erinnert, verliert man sich. Zeit ist versteckte Materie.
    Darüber wollte die Kanzlerin nachdenken. Sie setzte sich auf ihre Terrasse, und dass sie Mozart hörte, fiel ihr gar nicht auf. Sie rauchte eine Zigarette. Sie rauchte jedes Jahr einmal eine Zigarette. Und jetzt war dafür der richtige Augenblick. Eine SMS von Innenminister Eisele. Eine SMS von BKA-Boss Jens Brack. Eine SMS von Martin Puller, Chef des BND. Eine SMS von Merrit Amelie Kranz, der Entwicklungshelferin. Die Kanzlerin las nur diese Nachricht: »Freue mich sehr auf die Säntisreise. Programm: 13. August – Besichtigung des Rheinfalls. 14. August – früh aufstehen. Mit dem Hubschrauber auf die Schwägalp. Und mit der Seilbahn auf den Säntis, mit Sonnenaufgang und kleinem Imbiss.«
    Als leidenschaftliche Wanderin kannte die Kanzlerin viele Wandererzitate von grossen Autoren. Und über den Rheinfall hatte Eduard Mörike geschrieben: Halte dein Herz, o Wanderer, fest in gewaltigen Händen! / Mir entstürzte vor Lust zitternd das meinige fast. / Rastlos donnernde Massen auf donnernde Massen geworfen, / Ohr und Auge wohin retten sie sich im Tumult?
    Auch das war eine Frage, über die sie nachdenken wollte. Und die sie gleichzeitig an eine Podiumsdiskussion erinnerte, zu der sie der Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios eingeladen hatte. Es ging um das Werk einer Autorin, die sie nicht kannte: Inge Kloepfer – Aufstand der Unterschicht: Was auf uns zukommt. Die Kanzlerin holte ihre Handtasche und las die Ankündigung: »Deutschland, daran gibt es gar keinen Zweifel, hat eine wachsende Unterschicht. Die sich immer weiter zuspitzende Chancenlosigkeit, die mit der Armut einhergeht, haben die Politiker indessen vernachlässigt. Über das Heer von chancenlosen Kindern und Jugendlichen, das unsere Gesellschaft in ihrem Zusammenhalt bedroht, berichtet das neu erschienene Buch …«
    Über diese Problematik jetzt nachzudenken, hatte sie keine Lust. Hingegen auf eine zweite Zigarette – was ihr in den letzten Jahren nie passiert war. Sie simste: »Johannes, ich rauche. Nun haben wir beide rauchende Köpfe.

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