Die Kanzlerin - Roman
Kranich schliesslich, »aber ich befürchte, das waren sie nicht, verrückt.«
»Sondern, Herr Kranich? Töten normale Menschen andere Menschen?«
»Es geht nicht um das Gegenteil von verrückt, so einfach ist es nicht.«
»Herr Kranich, ich bin müde. Also reden Sie bitte kurz und klar und so, dass ich am Ende weiss, dass sich meine Frage gelohnt hat.«
»Es ist der Hass«, sagte Kranich, »dieser Hass, der in vielen Menschen steckt. Viele Leute können sehr lange unglücklich sein. Aber einmal kommt ein Augenblick, in dem dieses Unglücklichsein nicht mehr zu ertragen ist und in Hass umschlägt. Und dieser Hass ist so grundsätzlich und umfassend, dass er alles und alle treffen kann. Sie, mich, Minister, den Bäcker.«
»Was verstehen Sie unter Hass?«
»Hass ist ein Klumpen. Alles, was Menschen in ihrem Leben schlucken mussten, sammelt sich, verklumpt und wird hart. Und Hass ist ein totes Gefühl. Ein schreckliches Gefühl. Weil: Wer wirklich hasst, weiss nicht, warum. Und Hass muss sich realisieren. Wer hasst, muss etwas Hässliches tun, nur so verspürt er für kurze Zeit eine kleine Erleichterung. Bis der Hasskübel wieder voll ist und ausgeschüttet werden muss. Hassen heisst müssen. Hass hat mit Wut nichts zu tun. Wut ist ein heisses Gefühl. Der Hass aber ist kalt. Hass ist nie souverän. Hass kommt aus der Ohnmacht. Ohnmächtige machen so etwas, Frau Kanzlerin. Hass ist ein vernichtendes Gefühl, und Hass vernichtet. Das ist seine Bestimmung. Hass muss vernichten. Die Leute sagen: ›Hass macht blind.‹ Aber das stimmt nicht. Sondern die Blindenhassen. Die Geblendeten.« Kranich machte eine Pause. Dann sagte er: »Hass ist eingesperrte Liebe.«
Die Kanzlerin antwortete nicht sofort, und das gab Kranich das Gefühl, vielleicht etwas gesagt zu haben, was sie interessieren könnte.
»Faszinierend, Herr Kranich, obwohl Sie sich doch etwas gar üppig ausgedrückt haben. Aber wenn – ich fabuliere jetzt nur mal ein bisschen –, wenn zum Beispiel ein Politiker einen anderen Politiker hasst, dann wird er ihn nicht töten. Der einzige Grund, warum ein Politiker einen anderen Politiker tötet, ist, dass er mächtiger sein will. Aber was rede ich da, wie komme ich nur darauf, dass hinter einem möglicherweise politisch motivierten Anschlag Politiker stecken? Können Sie mir sagen, warum ich auf solche Ideen komme?«
»Vielleicht habe ich Sie auf diese Idee gebracht. Die Politik sieht nur die Empörten und Wütenden. Aber das sind Leute, die wissen, was sie wollen und was nicht. Die meisten Menschen aber wissen das nicht. Manche von ihnen sind gleichgültig oder apathisch, andere haben sich so gut versteckt, dass niemand sie mehr finden kann. Und diese Menschen können sich auch selbst nicht mehr finden, eines Tages. Aber das merken sie nicht. Sie wissen nicht, dass sie Verlorene sind und was sie verloren haben. Weil der Verlust so schmerzhaft war, dass sie nichts mehr spüren. Menschen, die sich selbst nicht mehr spüren, machen so etwas, Frau Kanzlerin. Und die Politik macht auch Politiker ohnmächtig.«
»Herr Kranich, reden Sie Klartext. Welche Politiker meinen Sie, zum Beispiel?«
»Politik ist im Kern ein Versprechen, das nicht einzulösen ist: Es gibt keine Gerechtigkeit im Leben. Es gibt keine Gleichheit. Und es gibt auch keine Brüderlichkeit. Die einzige Aufgabe der Politik ist es, das zu verschleiern.«
»Bruder Kranich, geht es, auch wenn wir gerade eine Wolkenfront durchqueren, etwas konkreter?«
»Sie haben in Ihrer ersten Regierungserklärung gesagt, dass Sie die Menschen zufrieden oder gar glücklich machen wollen. Auch SPD-Glock hat gesagt, das sei das Wichtigste. Aber das ist Unsinn. Zufriedene Menschen brauchen die Politik nicht.«
»Johannes, sie sind alle erstickt.« Die Kanzlerin stockte, Caspers stand auf und setzte sich auf einen anderen Platz. »Hendricks, Kiki Ritz …« Plötzlich drückte sie seine Hand. »Herr Kranich, Sie haben mir das Leben gerettet, und dafür möchte ich Ihnen danken, obwohl mir durchaus bewusst ist, dass Sie das nicht absichtlich getan haben. Also gewissermassen unfreiwillig. Aber dennoch: Ich lebe. Danke, Johannes.«
»Bitte«, sagte Kranich.
E s kamen mehr als 2000 Journalisten, und so liess Verteidigungsminister Kari Fässler zwei Säle von Gymnasien räumen, damit jene, die im Berner Kursaal keinen Platz mehr fanden, die Pressekonferenz auf Grossleinwänden mitverfolgen konnten.
Die beiden Krisenstäbe in Bern und Berlin hatten sich
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