Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
Fleckchen Erde in Deutschland, das er nicht mit Familie und Fahrrad erkundet hatte –, hatte vor ihrer Abfahrt von heruntergekommenen Städten, sanierungsbedürftigen Häusern und tristen Landschaften gesprochen. Nach Eberswalde schien ihn sein Weg nicht geführt zu haben. Fast alle Häuser erstrahlten in den frischesten Farben, einige Giebelbauten mit Walmdach wirkten wie aus dem Bilderbuch. Dazwischen Grünflächen und Parks, an den Straßenrändern viele Bäume.
Der Leiter des LKA Brandenburg, Karl-Heinz Wendt, begrüßte sie freundlich. Eine ältliche, missmutig dreinschauende Frau aus dem Vorzimmer sorgte für Kaffee. Während Verena das kochend heiße Getränk schlürfte, setzte ihr Gastgeber sie über den Mordfall in Kenntnis. „Die Spurensicherung ist bereits vor Ort. Auch mein bester Ermittler, Jan Schuster. Der Mann ist ein Urgestein, seit mehr als dreißig Jahren im Polizeidienst.“ Seine nächsten Worte sorgten bei Verena für Verunsicherung. „Ich will offen zu Ihnen sein. Schuster war früher bei der Stasi. Nichts Anrüchiges. Keine Bespitzelung von Personen, keine Überwachung von Oppositionellen. Er war Personenschützer und hat Erich Honecker und Co. begleitet. Offiziell waren ja alle gleich, die Wirklichkeit sah allerdings anders aus. Die Herrschaften vom Politbüro haben Annehmlichkeiten wie Begleitschutz, Dienstwagen und Fahrer durchaus zu schätzen gewusst.“ Als er Verenas skeptischen Blick bemerkte, sah er sich zu einer weiteren Erklärung bemüßigt. „Auch wenn es Ihnen unwahrscheinlich vorkommen mag, Schuster gehört nicht zu den Verbohrten, zu den stramm Linientreuen, die der guten alten DDR nachtrauern. Wir Westdeutschen schwingen uns gerne zu Moralaposteln über die Ossis auf, empören uns über mangelndes Rechtsbewusstsein, fehlende Zivilcourage und dergleichen. Nur Hand aufs Herz: Glauben Sie ernsthaft, dass sich unsere Kollegen in den alten Bundesländern unter den damaligen Umständen anders verhalten hätten?“
Verena ging im Kopf die Reihe ihrer Kollegen durch. Hirschmann ganz sicher nicht, Kleinsorge, Hetzel und Frau Schramm auch nicht. Pieper schon eher, aber sicher war sie auch bei ihm nicht. Bis auf Stollmann, der kein Blatt vor den Mund nahm, wollte ihr niemand einfallen, der die große Revolte gewagt und dafür jahrelange Haft in Bautzen riskiert hätte. Sie war erleichtert, dass ihr wenigstens ein Kollege mit Zivilcourage einfiel. Und sie selbst? Sie schob die lästigen Gedanken beiseite.
Wendt lächelte leicht, als er fortfuhr. „Ehe Sie falsche Schlüsse ziehen, ich komme aus dem Westen. Ich habe meine Laufbahn in Paderborn begonnen. Die Leitung des LKA Brandenburg habe ich vor fünf Jahren übernommen. Natürlich weiß ich von der Stasivergangenheit einiger meiner Mitarbeiter. Die meisten waren nur Mitläufer.“
Verena verspürte nicht die geringste Lust auf Vergangenheitsbewältigung. Sie brachte das Gespräch auf den Mordfall. „Ich würde gerne den Tatort in Augenschein nehmen. Letzte Woche wurde Tobias Wächter, ein Landtagsabgeordneter und Bekannter Baumgarts, vor seinem Haus erstochen. Es spricht einiges dafür, dass die Morde zusammenhängen.“ Falls Wendt überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken. „Deshalb würde ich gerne …“
„Natürlich. Überhaupt kein Problem“, unterbrach er sie. „Ich stelle Ihnen ein Dienstfahrzeug zur Verfügung. Nach Sommerfelde sind es nur wenige Kilometer. Wenn Sie angekommen sind, wenden Sie sich gleich an Schuster. Und schauen Sie noch einmal bei mir herein, bevor Sie nach Hannover zurückfahren. Es war ja einiges los bei Ihnen in den letzten Jahren. Ein Spitzenkandidat ermordet, davor die Staatskanzleimorde und obendrein noch die Affäre um den Bundespräsidenten! Ein interessantes Völkchen, die Niedersachsen!“ Verena verzichtete auf einen Kommentar. Was hätte sie auch sagen sollen?
Der Polizeifahrer erwies sich als mundfaul. Auf Verenas gut gemeinte Konversationsbemühungen reagierte er mit unverständlichem Brummeln. Nachdem sie Eberswalde verlassen hatten, fuhren sie durch dichtes Waldgebiet. Von wegen kahle Landschaften. Ein abruptes Bremsen ließ Verena zusammenzucken. Sie bogen in einen schmalen Waldweg. Auf einer Lichtung standen Streifenwagen und mehrere Zivilfahrzeuge, eines davon mit der Aufschrift des örtlichen Lokalsenders. Neugierige Augen musterten die Polizeibeamtin aus Niedersachsen, als sie zu dem mit einem Band abgesperrten Tatort ging. Baumgart, eine der schillerndsten
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