Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
Ruinen, zur trutzigen Hämelschenburg und zum Schloss Fürstenberg. Nach dem Abendbrot hatte sein Vater ihm Märchen der Gebrüder Grimm vorgelesen. Rotkäppchen, Schneewittchen, Dornröschen, Hänsel und Gretel, alle hatten in den sagenumwobenen Wäldern des Weserberglandes ihr Zuhause gehabt. Als er älter wurde, waren die Märchen durch Erzählungen des Lügenbarons von Münchhausen aus Bodenwerder ersetzt worden.
Mit Wehmut dachte Wagner an seine Eltern. Sie waren in den letzten Monaten alt geworden. Bei seinem Vater gab es erste Hinweise auf eine Demenzerkrankung und seine Mutter hat Herzprobleme. Lange würden sie in ihrem Haus nicht mehr bleiben können.
Wagner fuhr am mondänen Staatsbad Pyrmont vorbei in Richtung Lügde. Die Klinik lag mitten im Wald zwischen den beiden Ortschaften. Er wunderte sich, dass kein Straßenschild auf das Gebäude hinwies. Auch sein Navigationsgerät ließ ihn im Stich. Erst nach längerer Suche fand er die richtige Stichstraße, die in den Wald zu dem früheren Kurhotel führte. Der trutzige Bau aus den Anfängen des vorigen Jahrhunderts war hinter hohen Bäumen versteckt. Er wirkte kalt und abweisend. Niemals wäre es Wagner in den Sinn gekommen, sich hier freiwillig einzuquartieren. Als Spezialklinik für gestresste Manager war die abgeschiedene Lage allerdings ideal, denn weder Verkehrslärm noch weltliche Ablenkungen würden die Ruhebedürftigen stören. Ein kleines Schild wies die Klinik als „Privatklinik für Psychosomatik“ aus, das Schild „Privatgelände – Betreten verboten!“ war um ein Vielfaches größer.
Vor dem Gebäude standen Fahrzeuge mit Aufschriften von Handwerkerfirmen. Die Umbaumaßnahmen waren also noch im Gange. Die stark geschminkte Dame hinter dem Empfangstresen musterte ihn streng. Nachdem Wagner sich als Landtagsabgeordneter vorgestellt hatte, öffneten sich die missbilligend zusammengepressten Lippen leicht. Gerade genug, um die gewünschte Auskunft zu erteilen. „Ich frage Herrn Verwaltungsdirektor Bodendorf, ob er Zeit für Sie hat.“ Nach einem kurzen Telefonat wurde er in die erste Etage geschickt. Im weiß getünchten Treppenhaus roch es nach frischer Farbe. Es wirkte abweisend und kalt auf Wagner – keine Bilder an den Wänden, keine Blumentöpfe, nichts lenkte vom sterilen Klinikcharakter ab.
Der Mann hinter dem Schreibtisch des ebenfalls kahlen, ungemütlichen Büros mochte Mitte, vielleicht auch Ende vierzig sein. Als Erstes fielen Wagner die auffällig gerade Nase und das elegante, modische Brillengestell auf. Bodendorf erhob sich und kam ihm entgegen. Sein Händedruck war schlaff, sein Gesichtsausdruck skeptisch. „Guten Tag, Herr Abgeordneter. Treten Sie näher. Viel Zeit habe ich leider nicht. Wir wollen Ende nächster Woche eröffnen. Bis dahin ist noch viel zu tun.“ Auf dem Besuchertisch standen eine Flasche Mineralwasser und Gläser. „Wasser?“, fragte er.
Wagner hätte Kaffee bevorzugt, am liebsten mit Keksen, aber diese waren ja tabu. So gab er sich mit Wasser zufrieden. „Schön, dass Sie Zeit für mich haben, Herr Bodendorf. Ich habe einige Aufgaben des verstorbenen Abgeordneten Wächter übernommen und möchte mir einen Eindruck von der Klinik verschaffen. Mein Kollege hat mir von dem Projekt erzählt. Er war davon sehr angetan und optimistisch, dass sie gut angenommen wird.“ Wagner wunderte sich über sich selbst, wie leicht die Lüge ihm über die Lippen ging. Albi war der Meinung gewesen, dass man in seinem Gesicht wie in einem offenen Buch lesen könne. „Was wahrlich keine gute Voraussetzung für einen Politiker ist“, hatte er noch hinzugefügt.
In den Augen seines Gegenübers erschien für einen kurzen Moment ein Flackern. Für Wagner ein Zeichen, dass er auf dem richtigen Weg war. „Tatsächlich? Das freut mich“, sagte Bodendorf. Sein Gesichtsausdruck zeugte vom Gegenteil. „Was hat er Ihnen denn sonst noch über uns erzählt?“
Ein weiteres Mal griff Wagner zu einer Lüge. „Dass gestresste Topmanager behandelt werden sollen. Deshalb auch die Lage weitab vom Schuss.“
Die Gesichtszüge des Verwaltungsdirektors entspannten sich. „Stimmt. Wir wollen ein neues, revolutionäres Behandlungskonzept einsetzen, um Burn-out-Patienten nachhaltig zu kurieren.“
„Interessant“, bemerkte Wagner. „Ich habe gar keine Internetseite über die Klinik gefunden, auch kein Hinweisschild an der Straße.“
Schon wieder das Flackern in den Augen. Die Brille wurde abgesetzt und umständlich geputzt.
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