Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
Sonst nichts. Kein Bild an der Wand, kein Fernseher, kein Radio. Für ein Zimmer in einer Kurklinik ziemlich befremdlich. So durchgeknallt kann man doch gar nicht sein, dass man hier freiwillig übernachtet und dann auch noch Unsummen dafür ausgibt, befand Wagner. Dann stutzte er, sein Blick blieb an einem der Kartons hängen. Etwas in diesem Zimmer stimmte nicht. Was hatte der Verwaltungsdirektor noch gesagt? Wir wollen nur absolute Topmanager behandeln? Er trat näher an den Karton heran, um die Aufschrift zu lesen. Merkwürdig, sehr merkwürdig. Als er sich zum Direktor umdrehte, der immer noch im Türrahmen stand, wuchs sein Unbehagen. Von diesem Mann ging etwas Bedrohliches aus. Diese kalten, undurchdringlichen Augen, der lauernde Blick, dem nichts zu entgehen schien. Wagner überspielte sein Unbehagen mit einer nichtssagenden Floskel. „Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mir einen Einblick zu geben. Ich bin sicher, dass die Klinik ein Erfolg wird.“
„Ich bringe Sie noch zum Ausgang“, versicherte Bodendorf eilfertig. Von der Besichtigung des Aufenthaltsraums war keine Rede mehr. Wagner war es egal, er hatte genug gesehen, um sich eine Meinung zu bilden. Sein Bauchgefühl hatte ihn nicht getäuscht. Mit der Klinik war etwas faul, um nicht zu sagen: oberfaul. Während sie die Treppe hinunter Richtung Eingangshalle gingen, erkundigte sich der Verwaltungsdirektor beiläufig nach dem Ermittlungsstand der Mordfälle. Mehr als den Satz „Die Polizei scheint noch im Trüben zu fischen“ ließ Wagner sich nicht entlocken. Der Abschied fiel entsprechend kühl aus.
Zurück im Landtag setzte er sich sofort an seinen Computer. Die Informationen, die Google ihm über Vitalboxen lieferte, stürzten ihn in Verwirrung.
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H ANNOVER UND S IEBEN B ERGE
Die Klinge des Messers glitzerte bedrohlich. Verena wollte ihr ausweichen, doch die Panik verhinderte es, ihr Körper wollte ihr einfach nicht gehorchen. Steh auf! Lauf weg!, schrie es in ihr. Es ging nicht.
Immer wieder derselbe scheußliche Traum. Sie kam aus der Schule, voll mit Erlebnissen, die sie loswerden wollte: der alkoholkranke Biologielehrer, der die Unterrichtsstunden mit Berichten über nächtliche Begegnungen mit Glühwürmchen füllte, der jähzornige Mathelehrer und der umschwärmte, jugendliche Englischlehrer. Ihre Mutter hörte geduldig zu und spendete, wenn nötig, Trost. Dann der Bruch: Plötzlich stand ihre Mutter auf, ging in die Küche und kam mit einem Brotmesser bewaffnet zurück. Jedes Mal, bevor sie zum tödlichen Stich ansetzte, wachte Verena auf. Auch heute wieder. Und sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hätte ihre Mutter nicht in ein Pflegeheim abschieben dürfen. Aber eine Demenzkranke bei sich aufzunehmen, hatte ihr Job nicht zugelassen. Trotzdem ließen sich die Schuldgefühle nicht verdrängen.
Jürgen lag neben ihr und schlief noch. Es war erst sieben Uhr, sie hatte gerade mal vier Stunden geschlafen und fühlte sich zerschlagen und müde. Doch sie wusste, dass der Schlaf nicht zurückkommen würde. Verena überbrückte die Zeit, indem sie in Gedanken die beiden Mordfälle durchging. Der Gerichtsmediziner in Eberswalde hatte bestätigt, dass Baumgart an den beiden Messerstichen gestorben war. Auch ihm war das Messer mit voller Wucht mitten ins Herz gerammt worden. Zwar stand das letzte Ergebnis noch aus, aber alles deutete darauf hin, dass Baumgart vom selben Täter erstochen worden war wie der Abgeordnete Wächter.
Verena fragte sich, wer die beiden so gehasst hatte, dass er zum Mörder geworden war. In Gedanken ging sie die Liste der Verdächtigen durch. Der Abgeordnete Stutz hatte allen Grund, Wächter zu hassen. Doch weshalb hätte er Baumgart töten sollen? Auch Frau Baumgart war in ihren Augen nach wie vor verdächtig. Vermutlich hatte sie längst von der Liaison ihres Mannes mit Frau Wächter erfahren. Allerdings fragte sie sich, weshalb sie dann nicht nur ihren Mann, sondern auch den Ehemann seiner Geliebten getötet hatte. Das machte keinen Sinn. Es blieben noch Baumgarts teils dubiose Geschäfte und Boris Milner als Tatverdächtiger. Mit ihm war Baumgart schließlich verabredet gewesen, bevor er ermordet wurde. Doch selbst wenn es um kriminelle Geschäfte ging, über die Milner und Baumgart sich zerstritten hatten, weshalb sollte der russische Oligarch auch den Abgeordneten umbringen lassen? Verdammt, sie sah einfach kein Licht am Ende des Tunnels. Schlimmer noch, sie konnte nicht einmal den
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