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Die Kapuzinergruft

Die Kapuzinergruft

Titel: Die Kapuzinergruft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Roth
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Assent-Kommission war unwiderruflich. Er lautete: »Für den Tod untauglich befunden.«

XXVII
    Wir gewöhnten uns alle an das Ungewöhnliche. Es war ein hastiges Sich-Gewöhnen. Gleichsam ohne es zu wissen, beeilten wir uns mit unserer Anpassung, wir liefen geradezu Erscheinungen nach, die wir haßten und verabscheuten. Wir begannen, unsern Jammer sogar zu lieben, wie man treue Freunde liebt. Wir vergruben uns geradezu in ihn. Wir waren ihm dankbar, weil er unsere kleinen, besonderen, persönlichen Kümmernisse verschlang, er, ihr großer Bruder, der große Jammer, dem gegenüber zwar kein Trost standhalten konnte, aber auch keine unserer täglichen Sorgen. Man würde meiner Meinung nach auch die erschreckende Nachgiebigkeit der heutigen Geschlechter gegenüber ihren noch schrecklicheren Unterjochern verstehen und gewiß auch verzeihen, wenn man bedächte, daß es in der menschlichen Natur gelegen ist, das gewaltige, alles verzehrende Unheil dem besonderen Kummer vorzuziehen. Das ungeheuerliche Unheil verschlingt rapide das kleine Unglück, das Pech sozusagen. Und also liebten wir in jenen Jahren den ungeheueren Jammer.
    Oh, nicht, daß wir nicht imstande gewesen wären, noch ein paar kleine Freuden vor ihm zu retten, sie ihm abzukaufen, abzuschmeicheln, abzuringen. Wir scherzten oft und lachten oft. Wir gaben Geld aus, das uns zwar kaum noch gehörte, das aber auch kaum noch einen Wert hatte. Wir borgten und verborgten, ließen uns schenken und verschenkten, blieben schuldig und bezahlten anderer Schulden. So ähnlich werden einmal die Menschen einen Tag vor dem Jüngsten Gericht leben, Honig saugend aus den giftigen Blumen, die verlöschende Sonne als Lebensspenderin preisend, die verdorrende Erde küssend als die Mutter der Fruchtbarkeit.
    Der Frühling nahte, der Wiener Frühling, dem keines der weinerlichen Chansons jemals etwas anhaben konnte. Keine einzige von den populär gewordenen Melodien enthält die Innigkeit eines Amselrufs im Votivpark oder im Volksgarten. Kein gereimter Liedertext ist so kräftig wie der liebenswürdig grobe, heisere Schrei eines Ausrufers vor einer Praterbude im April. Wer kann das behutsame Gold des Goldregens besingen, das sich vergeblich zu bergen sucht zwischen dem jungen Grün der nachbarlichen Sträucher? Der holde Duft des Holunders nahte schon, ein festliches Versprechen. Im Wienerwald blauten die Veilchen. Die Menschen paarten sich. In unserem Stammkaffee machten wir Witze, spielten wir Schach und Dardel und Tarock. Wir verloren und gewannen wertloses Geld.
    Für meine Mutter bedeutete der Frühling so viel, daß sie, vom fünfzehnten April angefangen, zweimal monatlich in den Prater fuhr, nicht nur einmal wie im Winter. Es gab nur noch wenige Fiaker. Die Pferde starben vor Altersschwäche. Viele schlachtete man und aß sie als Würste. In den Remisen der alten Armee konnte man die Bestandteile der zertrümmerten Fiaker sehen. Gummiradler, in denen die Tschirschkys, die Pallavicinis, die Sternbergs, die Esterházys, die Dietrichsteins, die Trautmannsdorffs einst gefahren sein mochten. Meine Mutter, vorsichtig, wie sie von Natur aus war, und noch vorsichtiger durch das Alter geworden, hatte mit einem der wenigen Fiaker »akkordiert«. Er kam pünktlich zweimal im Monat um neun Uhr morgens. Manchmal begleitete ich meine Mutter, besonders an den Tagen, an denen es regnete. In der Unbill – und ein Regen war für sie schon eine – wollte sie nicht allein sein. Wir sprachen nicht viel in dem stillen, gütigen Dämmer unter der aufgeschlagenen Regenplache. »Herr Xaver«, sagte meine Mutter zum Fiaker, »erzählen S' mir was.« Er wandte sich uns zu, er ließ ein paar Minuten lang die Pferde dahintraben und erzählte allerhand. Sein Sohn war ein Studierter, aus dem Krieg heimgekehrt, aktiver Kommunist. »Mein Sohn sagt«, erzählte der Herr Xaver, »daß der Kapitalismus erledigt ist. Er sagt nicht mehr Vater zu mir. Er nennt mich: Fahr'n ma, Euer Gnaden! Er ist ein guter Kopf. Er weiß, was er will. Von meinen Pferden versteht er nix.« Ob sie auch Kapitalist sei, fragte meine Mutter. »Freilich«, sagte der Herr Xaver, »alle, die nicht arbeiten und dennoch leben, sind Kapitalisten.« – »Und die Bettler?« fragte meine Mutter. »Die arbeiten nicht, fahren aber auch nicht im Fiaker zum Praterspitz, ›wia Sö›, gnädige Frau!« antwortete der Herr Xaver. Meine Mutter sagte zu mir: »Jakobiner!« Sie hatte gedacht, in dem Dialekt der »Besitzenden« gesprochen zu haben.

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