Die Kartause von Parma
erstaunt zu ihm, »als der Hunger dich zwang, von den abscheulichen Gerichten aus der Gefängnisküche zu essen, um nicht umzufallen, hast du da nicht den Verdacht gehabt: »Es schmeckt darin etwas sonderbar; vergiftet man mich etwa in diesem Augenblick?« Hast du da nicht geschaudert?«
»Ich habe an den Tod gedacht,« antwortete Fabrizzio, »wie wohl die Soldaten an ihn denken: er war eine Möglichkeit, der ich durch meine Geschicklichkeit aus dem Wege zu gehen hoffte.«
Wie beunruhigend, wie schmerzlich für die Duchezza! Dieser angebetete Mensch, so eigenartig, lebhaft und seltsam, verfiel nun vor ihren Augen in grenzenlosen Tiefsinn. Er setzte die Einsamkeit über den Genuß der offenherzigen Plauderei mit der besten Freundin, die er auf der Welt hatte. Er war wie immer gut, artig, dankbar gegen die Duchezza; wie sonst hätte er sein Leben hundertmal für sie dahingegeben, aber seine Seele weilte anderswo. Zuweilen wurden vier- bis fünfstündige Ausfahrten über den herrlichen See unternommen, ohne daß ein Wort dabei fiel. Die Unterhaltung, ein Austausch kühler Gedanken, wie er fortan zwischen ihnen stattfand, wäre anderen vielleicht angenehm vorgekommen; die beiden aber, zumal die Duchezza, erinnerten sich daran, was ihre Unterhaltung war, ehe der verhängnisvolle Kampf mit Giletti sie getrennt hatte. Fabrizzio blieb der Duchezza den Bericht von den neun Monaten schuldig, die er in einem grauenhaften Gefängnis verbracht hatte, und es fand sich, daß er über diesen Aufenthalt nur kurze und zusammenhanglose Worte zu sagen wußte.
»Früher oder später mußte es ja so kommen«, sagte sich die Duchezza in düsterer Traurigkeit. »Der Kummer hat mich alt gemacht, oder er liebt wirklich, und ich habe in seinem Herzen nur noch den zweiten Platz.« Gedemütigt, niedergeschlagen durch dieses größtmögliche Leid, sagtesie sich zuweilen: ›Wenn es der Himmel fügte, daß Ferrante ganz verrückt geworden wäre oder keinen Mut mehr hätte, würde ich wahrscheinlich weniger unglücklich sein.‹ Von diesem Augenblick halber Reue an war die Achtung der Duchezza vor ihrem eigenen Charakter vergiftet. ›Schau, schau!‹ sagte sie sich voller Bitternis. ›Ich bereue einen einmal gefaßten Entschluß! So bin ich also keine del Dongo mehr!‹
›Der Himmel hat es gewollt!‹ fuhr sie fort. ›Fabrizzio ist verliebt. Welches Recht hätte ich, ihm zu verwehren, daß er verliebt ist? Ist je zwischen uns nur ein einziges Liebeswort gewechselt worden?‹
Dieser so vernünftige Gedanke raubte ihr den Schlaf, und eine Tatsache bewies schließlich, daß ihr Alter und ihre Seelenschwäche mit der Aussicht auf eine großartige Rache zugenommen hatten: sie war in Belgirate hundertmal unglücklicher als in Parma. Was das Wesen betraf, das Fabrizzio zu einem so seltsamen Träumer gemacht haben mochte, so waren begründete Zweifel nicht weiter möglich: Clelia Conti, dieses so fromme Mädchen, hatte ihren eigenen Vater verraten, weil sie eingewilligt hatte, die Besatzung der Zitadelle betrunken zu machen, und doch erwähnte Fabrizzio sie mit keiner Silbe. ›Aber‹, fügte die Duchezza hinzu, indem sie sich vor Verzweiflung gegen die Brust schlug, ›wenn die Besatzung nicht betrunken gemacht worden wäre, dann hätten alle meine Pläne, alle meine Bemühungen nichts genützt. Also ist sie es, die ihn gerettet hat!‹
Nur unter außerordentlichen Schwierigkeiten brachte die Duchezza Einzelheiten über die Ereignisse jener Nacht aus Fabrizzio heraus. ›Ehedem‹, sagte sie sich, ›hätte das zwischen uns einen sich unaufhörlich erneuernden Gesprächsstoff abgegeben! In jenen glückseligen Zeiten hätte er einen vollen Tag mit Feuer und nie versiegender Heiterkeit über die geringste Kleinigkeit gesprochen.‹
Da man auf alles gefaßt sein mußte, brachte die Duchezza Fabrizzio in Locarno unter, einem Schweizer Städtchenam nördlichsten Zipfel des Lago Maggiore. Täglich unternahmen sie in einem Boot weite Spazierfahrten über den See. Als die Duchezza es sich einmal einfallen ließ, in Fabrizzios Wohnung zu kommen, fand sie sein Zimmer mit einer Menge Ansichten der Stadt Parma behängt, die er sich aus Mailand oder gar aus Parma hatte schicken lassen, obwohl ihm jenes Land doch hätte im häßlichsten Andenken sein müssen. Sein kleines Empfangszimmer war in ein Atelier umgewandelt und voll von allen möglichen Gerätschaften eines Aquarellmalers. Sie sah, daß er zum dritten Male die Torre Farnese mit der Kommandantur
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