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Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Gebirge hätte erreichen können. Also blieb ihm nichts übrig, als das österreichische Gebiet auf dem linken Po-Ufer. Ehe die österreichischen Behörden benachrichtigt und um seine Verhaftung ersucht würden, verstrichen vielleicht sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden. Nachdem er zum Entschluß gekommen war, verbrannte er seinen Paß mit dem Feuer seiner Zigarre: er wollte in Österreich lieber Landstreicher als Fabrizzio del Dongo sein. Möglicherweise durchsuchte man ihn.
    Abgesehen von seinem völlig natürlichen Widerwillen, sein Leben dem Paß des unglücklichen Giletti anzuvertrauen, brachte dieser Ausweis äußerliche Schwierigkeiten mit sich. Fabrizzios Körpermaß betrug höchstens fünf Fuß und fünf Zoll, aber nicht fünf Fuß und zehn Zoll, wie der Paß angab. Er war ungefähr vierundzwanzig Jahre alt, sah aber jünger aus, Giletti neununddreißig. Wir müssen gestehen, daß unser Held eine reichliche halbe Stunde auf einem Damm nahe der Po-Brücke auf und ab ging, ehe er sich entschloß, hinüberzugehen. ›Was würde ich einem anderen raten, der sich an meiner Stelle befände?‹ fragte er sich schließlich. ›Wahrscheinlich, er solle hinübergehen. Es ist gefahrvoll, im Staate Parma zu bleiben. Vielleicht ist ein Gendarm zur Verfolgung des Mannes ausgesandt, der einen anderen, wenn auch aus Notwehr, totgeschlagen hat.‹ Fabrizzio durchsuchte seine Taschen, zerriß alle Papiere und behielt nur sein Taschentuch und seine Zigarrentasche. Es lag ihm daran, die Durchsuchung, der er entgegenging, abzukürzen. Er dachte an eine schreckliche Vorhaltung, die man ihm machen könnte und auf die er nur schlechte Antworten fände: er war im Begriff, sich Giletti zu nennen, und seine ganze Wäsche war mit F.D. gezeichnet.
    Wie man sieht, war Fabrizzio einer von den Unglücklichen,die ihre Vorstellungsgabe quält. Das ist gewöhnlich der Fehler geistvoller Italiener. Ein französischer Soldat mit dem gleichen oder selbst geringerem Mut hätte die Brücke sofort und unverzüglich überschritten und vorher an keinerlei Schwierigkeit gedacht, aber er hätte dabei auch seine ganze Kaltblütigkeit bewahrt. Fäbrizzio war weit davon entfernt, kalten Blutes zu sein, als ihn am Ausgang der Brücke ein Männchen in grauer Uniform anredete: »Verfügen Sie sich in die Polizeikanzlei wegen Ihres Passes!«
    Diese Kanzlei hatte verräucherte Wände mit einer Reihe Haken, an denen die Tabakspfeifen und die schmutzigen Käppis der Grenzbeamten hingen. Das große Schreibpult aus Fichtenholz, hinter dem sie verschanzt saßen, war voller Tinten- und Weinspuren. Zwei oder drei dicke Folianten mit grünen Ledereinbänden zeigten Flecke in allen Farben, und der Schnitt ihrer Seiten war schwarz von Fingerabdrücken. Auf einem Haufen übereinandergeschichteter Eintragebücher lagen drei mächtige Lorbeerkränze, die zwei Tage vorher zu Kaisers Geburtstag ihren Dienst verrichtet hatten.
    Fabrizzio war von all diesen Einzelheiten betroffen; sie schnürten ihm das Herz zusammen. Das war das Sühnegeld für die Sauberkeit und den Prunk, die seine hübsche Wohnung im Palazzo Sanseverina zierten. Er war gezwungen, diese schmutzige Kanzlei zu betreten und hier als Individuum niederen Standes zu erscheinen, ja, er ging einem Verhör entgegen. . Der Beamte, der seine gelbe Hand zur Empfangnahme seines Passes ausstreckte, war klein und schwarz; er trug eine Schmucknadel aus Messing in der Krawatte. ›Ein mißlauniger Spießer!‹ sagte sich Fabrizzio. Der Mann sah im höchsten Maße überrascht aus, während er den Paß las, und dieses Lesen währte reichlich fünf Minuten.
    »Sie haben einen Unfall erlitten?« sagte er zu dem Fremden mit einem Blick auf seine Backe.
    »Der Kutscher hat uns am Po-Damm umgeworfen.«
    Abermaliges Stillschweigen. Der Beamte sandte dem Reisenden ein paar grimmige Blicke zu.
    ›Ich bin hineingefallen‹, sagte sich Fabrizzio. ›Er wird mir gleich sagen, es tue ihm leid, mir eine unangenehme Mitteilung machen zu müssen: ich sei verhaftet.‹ Alle möglichen törichten Gedanken schossen unserem Helden, der in diesem Augenblick nicht besonders logisch war, durch den Kopf. Zum Beispiel hatte er den Einfall, durch die offen gebliebene Tür der Kanzlei zu entfliehen. ›Ich entledige mich meines Rockes, springe in den Po und komme ohne Zweifel schwimmend hinüber. Nichts ist so schlimm wie der Spielberg!‹ Als er gerade erwog, ob ein derartiges Ausreißen gelingen könne, sah ihn der Zollbeamte scharf an. Das

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