Die Karte Des Himmels
vielleicht hast du auch recht. Arme alte Liza und Barney ... dass sie ständig solche Beleidigungen einstecken müssen.«
»Ich weiß, aber Summer hat zugesehen. Außerdem kann man mit solchen Leuten sowieso nicht vernünftig reden. Man weiß ja nie, wie sie reagieren. Dir hätte er vielleicht nichts getan. Aber es hätte auch sein können, dass er aussteigt und mir die Faust ins Gesicht rammt.«
»Dir? Warum?«
»Manche Kerle haben eine merkwürdige Art zu denken. Obwohl alle Welt seit Jahren über Gleichberechtigung diskutiert, glauben sie immer noch, dass die Männer für alles zuständig sind. Er hätte mir vorgeworfen, dass ich dich nicht richtig im Griff habe. Oder es würde seinem Ehrgefühl widersprechen, die Frau eines anderen Mannes zu verprügeln. Er hätte mich also stellvertretend geschlagen, weil ich gerade mit dir zusammen war. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass Barney sich gedemütigt gefühlt hätte, wenn jemand anderes versucht hätte, seine Schlachten zu schlagen, ganz besonders eine Fremde. Männlicher Stolz. Eine uralte Sache, die du aber trotzdem nicht unterschätzen solltest, Jude.«
»Das ist alles ziemlich dumm«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Aber was passiert jetzt mit Barney und Liza und den anderen? Ich kann mir nicht vorstellen, so zu leben. Es ist so ... riskant. Haben sie keine Erlaubnis, auf diesem Fleckchen Land zu lagern?«
»Nein. Farrell will, dass sie verschwinden. Ihr Recht ist nur in der Tradition begründet. Ich fürchte, das ist kein Eigentumsrecht. Als das Land noch den Wickhams gehörte, hat sich die Familie gegenüber den Zigeunern in jeder Hinsicht großzügig gezeigt. Aber oben an der Foxhole Lane stören sie die Pläne der Farrells. Im Moment lässt er sie noch an der Hauptstraße lagern. Inzwischen ist die Bezirksverwaltung eingeschaltet und führt Verhandlungen um einen dauerhaften Lagerplatz. Nun, du hast ja gesehen, wie der Fahrer reagiert hat. Ich will dir keinen Vortrag halten, aber seit den 1960er- und den 1970er-Jahren hat die Regierung Gesetze erlassen, die es den Roma-Gemeinschaften immer schwerer machen, auf traditionelle Weise durchs Land zu ziehen. Und die Menschen haben immer noch viele Vorurteile.«
»Dazu haben vermutlich auch die schlechten Gewohnheiten anderer nicht sesshafter Leute beigetragen. Müll und Kriminalität, meine ich.«
»So wie die New-Age-Partys am Yarmouth Beach? Nein, das passt nicht zu den Roma. Genauso wenig wie sie zurückschlagen, wie du es vorhin versucht hast. Du bist ziemlich leidenschaftlich, wenn du dich aufregst, stimmt’s?«
Jude dachte, dass er sich über sie lustig machen wollte, aber sein Gesicht war ganz ernst.
»Ungerechtigkeit ist mir verhasst, das ist alles«, erwiderte sie leise.
»Das habe ich gemerkt. Und du stellst dich immer schützend vor deine Familie. Auch das gefällt mir. Obwohl du es gar nicht musst.«
Euan lehnte sich in dem Liegestuhl nach vorn, hatte die Hände verschränkt und konzentrierte sich auf seine Worte.
»Du verteidigst deine Schwester heftig.«
»Ja, das ist wohl so. Ihr gegenüber habe ich mich immer so ... sie hat mir so leidgetan, wenn du verstehst, was ich meine. Wegen ihres armen Beines, aber auch ... das Leben war für sie immer wie ein schwerer Kampf. Sie hat nie ihren Weg gefunden. Bis Summer kam. Summer hat ihrem Leben einen Sinn gegeben. Aber trotzdem haben Claire und ich es nie leicht miteinander gehabt. Ich glaube, sie hat mich lieb, aber ... es stößt immer irgendwie an eine Grenze. Ach, eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich dir das alles erzähle. Das habe ich noch nie jemandem gesagt, nicht mal Mum. Also, Mum am allerwenigsten. Sie gehört zu den Menschen, gegen die ich Claire verteidigen muss.« Es fühlte sich natürlich und ungeheuer befreiend an, Euan all das zu gestehen, doch wusste sie nicht, wohin es führen würde. Claire schien ihm wichtig zu sein, so viel war klar. Jude spürte, wie sie immer blasser wurde, so als ob die Energie aus ihr heraussickerte.
»Vielleicht ... hoffentlich verstehst du mich nicht falsch ... vielleicht ist das Teil des Problems. Dass du deine Schwester bemitleidest. Menschen mögen es manchmal nicht, wenn man sie bemitleidet. Und, lass uns den Dingen ins Auge sehen, du klingst, als hättest du genauso viel Mitleid gebraucht wie sie. Claire ist sehr stark. Ich bewundere sie enorm.«
Jude starrte Euan an. Bewunderung. Das bedeutete Respekt, ja. Und in vergangenen Zeiten auch romantische Liebe. Sie spürte einen
Weitere Kostenlose Bücher