Die Karte Des Himmels
genügend liebte? Jude grübelte weiter. Nur selten interessierte Claire sich für das, was Jude tat – für ihre Forschungen oder ihre Arbeit –, und das war schon immer so gewesen. Vielleicht war es Eifersucht, aber vielleicht bedeutete Jude ihr auch nicht besonders viel.
Euan bewunderte Claire, das hatte er Jude anvertraut, und jetzt fragte sie sich, ob er tiefere Gefühle für ihre Schwester hegte. Jude hatte die beiden nicht oft genug zusammen gesehen, um sich ein Urteil bilden zu können, und ganz bestimmt nicht über einen längeren Zeitraum. Bisher hatte sie nicht die Gelegenheit gehabt, die kleinen Blicke und Gesten aufzufangen, die solche Gefühle verrieten. Allerdings war sie überzeugt, dass Claire auf mehr als nur Freundschaft hoffte. Und es stimmte auch, dass die beiden die kleine Summer sehr liebten. Euan verstand sich gut mit Kindern, und Summer verehrte ihn.
Bei dem Gedanken an die drei zusammen – Euan, Claire und Summer – flammte die Eifersucht qualvoll in ihr auf. Anschließend überkam sie eine Art Dumpfheit. Nein, in diesem Moment hatte sie kein bisschen Mitleid mit Claire, sondern spürte den alten Groll, den sie manchmal als Kind empfunden hatte, damals, als Claire mehr oder weniger die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Oder als Teenager, als die Jungen sich mehr für die lebhafte, hübsche Claire interessiert hatten als für Judes ruhigeren und sanfteren Charme. Es war lange her, dass sie diese jugendliche Eifersucht das letzte Mal verspürt hatte. Aber hin und wieder entdeckte sie überrascht die alten Muster von Zorn und Neid unter der Oberfläche. Sie fragte sich, ob man in Grans Alter auch noch so empfand. Seufzend drehte sie sich um und versuchte, zur Ruhe zu kommen.
Seit Marks Tod hatten sie beide versucht, einander näherzukommen, sich mehr umeinander zu kümmern, das sah sie schon. Summer war fast drei gewesen, Claire strampelte sich mit dem »Star Bureau« ab und sparte nach Kräften, um sich ein Haus leisten zu können. Sie hatte ihr Bestes gegeben, um Jude zu trösten, hatte häufig angerufen und darauf geachtet, ihre Schwester bei ihrer Mutter zu besuchen, wann immer sie nach Hause kam. Dabei waren sie sich auf jeden Fall nähergekommen. Aber ihre Beziehung war irgendwie wieder aus dem Gleichgewicht geraten, und Jude wusste ganz genau, dass das zum Teil auch mit Euan zu tun hatte. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
Euan ist ursprünglich Claires Freund, flüsterte ihre innere Stimme ihr wieder zu. Außerdem hatte sie das alles doch schon mit Chantal besprochen. Sie sollte sich Euan gegenüber einfach normal und freundlich verhalten und abwarten, wie die Dinge sich entwickelten. Aber vielleicht trieb das, was sich da entwickelte, auch für immer einen Keil zwischen die Schwestern? Oh, verdammt noch mal!
Erst kürzlich hatte sie in einer Zeitschrift einen Artikel über Schwestern gelesen, in dem auch dieses gegensätzliche Gefühl betont wurde, das die beiden füreinander hegten, eine Mischung aus eifersüchtiger Rivalität und großer Sorge umeinander. Es hatte geheißen, dass Schwestern ungeheuer wichtig füreinander wären, auch wenn sie den schlimmsten Hass und die tiefste Eifersucht aufeinander empfinden könnten, die in der kindlichen Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Eltern begründet läge. Außerdem stand in dem Artikel, dass die Position in der Familie sehr wichtig sei. Das besagte offenbar, dass die ältere Schwester meist als zuverlässiger galt, aber auch als rechthaberischer. Komisch, aber in ihrer Familie war es genau anders herum. Claire war weniger zuverlässig und beklagte sich oft, dass ihre Mutter sich mehr für Jude interessiere, ja dass sie Jude sogar mehr liebe. Es wäre interessant, irgendwann mal mit Mum darüber zu sprechen. Woraus sich die nächste Frustration ergab – das war ja wohl kaum ein Gespräch, das man per Handy mit Spanien führte.
Am nächsten Morgen war Jude zwar müde, fühlte sich aber auch wieder mehr im Gleichgewicht, und sie machte sich daran, den Brief an die Lokalzeitung zu formulieren. Er begann so:
Ich möchte gerne mit der Familie von Tamsin Lovall Kontakt aufnehmen. Tamsin Lovall war eine Kinderfreundin meiner Großmutter, einer gebürtigen Jessie Bennett, die darauf brennt, von ihr zu hören.
Jude hörte auf zu tippen, dachte lange und angestrengt darüber nach, welche Adresse sie angeben sollte. Am Ende besprach sie sich kurz mit Robert, gab ihren Namen an und die Anschrift von Starbrough Hall. Gran
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