Die Karte Des Himmels
allerdings, wenn sie auf Menschen schießen«, schrie sie, »und auf Tiere. Sie haben doch diesen Muntjak erschossen, oder?«
»Nein«, widersprach er ruhig, »ich habe ihn von seinen Qualen erlöst. Und jetzt werde ich ihn beerdigen.«
»Wie unglaublich freundlich von Ihnen«, schnaubte Jude immer noch verärgert. »Wo es doch Ihr Stacheldraht war, in dem er sich verfangen hat.«
»Es ist nicht mein Stacheldraht. Sie sind wirklich merkwürdig«, sagte er kopfschüttelnd. »Schieben mir die Schuld für alle möglichen Dinge in die Schuhe, mit denen ich gar nichts zu tun habe. Ich denke, Sie sollten lieber verschwinden. Nein, nicht da lang!«, rief er, als sie sich dem Pfad zuwandte, auf dem sie gekommen war. »Dann schießt man wieder auf Sie!«
»Machen Sie mir keine Angst!«
»Das wollte ich nicht. Sie haben mich falsch verstanden.« Seine Stimme klang nun sanfter. »Hören Sie, von mir haben Sie nichts zu befürchten. Aber Sie sollten jetzt wirklich gehen. Auch, damit der Schnitt versorgt werden kann.«
Jude betrachtete die Wunde. Eine einzige Schweinerei.
»Was machen Sie überhaupt hier? Sie sind angezogen, als wären Sie zum Dinner eingeladen.«
»Das da habe ich gesucht«, erklärte sie und nickte in Richtung Turm. Langsam kam sie sich ein bisschen albern vor.
»Starbrough Folly?«
»Ja.«
»Warum?«
»Er interessiert mich, das ist alles.«
»Weil ...?«
»Das ist kompliziert.«
»Okay, nun haben Sie Starbrough Folly ja gefunden. Und bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass es vernünftig wäre, jetzt zu gehen. Ich weiß nicht genau, wer geschossen hat, aber sie können jeden Augenblick hier sein.«
Jude blieb keine Wahl, und im Moment war ihr auch nicht nach weiteren Erkundungen.
»Los, kommen Sie schon!«, drängte er. »Ich zeige Ihnen den kürzesten Weg zur Straße zurück. Sind Sie mit dem Auto unterwegs?« Sie nickte. Er ging über die Lichtung, und sie musste sich beeilen, wenn sie Schritt halten wollte. Der pochende Schmerz in ihrem Bein war gerade noch erträglich.
Als sie das blendende Sonnenlicht hinter sich gelassen hatten und unter den Bäumen auf der anderen Seite des Turmes angekommen waren, konnte sie ihren Begleiter endlich deutlicher erkennen. Der Mann war groß und kräftig gebaut, auf eine Art, die sie an Caspar erinnerte. Nur sein dunkles welliges Haar war länger, widerspenstiger als das von Caspar, und während die Haut ihres Freundes so blass war wie bei Büromenschen üblich, war dieser Mann gebräunt. Hin und wieder schaute er zurück und vergewisserte sich, dass sie noch folgen konnte. Obwohl er nicht lächelte, sahen seine Augen unter den dichten Wimpern nicht unfreundlich aus. Wieder erinnerte er sie an Caspar, was sie irritierte. Beide Männer besaßen die gleiche körperliche Präsenz, wirkten charismatisch. Er trug ein Flanellhemd, dessen aufgerollte Ärmel die starken Muskeln an seinen Armen zu erkennen gaben. Seine Jeans steckte in Gummistiefeln, den Spaten schwang er leicht in seinen starken gebräunten Fingern hin und her. Schaudernd stellte Jude sich vor, wie diese Finger den unglücklichen Muntjak ins Jenseits befördert hatten.
Nach ein paar Minuten hatten sie einen breiteren Pfad erreicht, auf dem Fahrzeugspuren zu sehen waren.
»Gehen Sie auf diesem Weg weiter und biegen dann an der Einmündung nach links. Nach ein paar hundert Metern sollten Sie dort wieder ankommen, wo Sie losgegangen sind«, erklärte er rasch. »Ist mit der Wunde noch alles in Ordnung? Wir können auch schnell zu mir fahren, und ich ...«
»Nein, danke, ich habe Pflaster im Auto«, unterbrach sie ihn abweisend und ging weiter. Er rief ihr etwas nach, und sie drehte sich um. »Was?«
»Ich sagte, besuchen Sie mich doch ein andermal, und ich zeige Ihnen den Turm. Sie sollten nicht allein hinaufsteigen.«
»Was ...?«, wiederholte sie, obwohl sie ihn diesmal verstanden hatte. Es war nur, dass sein Angebot sie überraschte.
»Ich sagte, es ist nicht sicher. Das Haus unten am Hügel. Dort können Sie mich finden.«
»In Ordnung«, sagte Jude, »vielleicht.«
Der mühselige Weg den Hang hinunter rüttelte ihren müden Körper durch, und als sie an ihrem Wagen ankam, war sie völlig erschöpft. Auf dem Fahrersitz sank sie für ein paar Sekunden in sich zusammen. Dann erinnerte sie sich, dass es im Handschuhfach noch einen Riegel Schokolade gab, den sie zwischen den CDs und alten Kugelschreibern herauskramte. Sie freute sich, als sie dort auch das kleine Erste-Hilfe-Paket
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