Die Kathedrale der Ketzerin
Angriff überlegen, und wir müssen ihm
zuvorkommen. Es wird Krieg geben, Theobald, und es wird Blut fließen. Ich
fürchte, das ist nicht mehr zu verhindern.«
»Was habt Ihr vor?«, fragte Theobald beunruhigt.
Blanka trat ans Fenster.
»Da draußen«, sagte sie leise, »gehen Hunderttausende von Menschen
ihrer Arbeit nach. Als ich sie um Hilfe gebeten habe, waren sie für das
Königshaus da. Meine Streitmacht mag geschrumpft sein, aber ich habe ein Volk,
das seinen König und seine Königin liebt. Bisher hatte ich die Macht der
Kommunen unterschätzt, Theobald, jetzt werde ich sie mir im Kampf gegen diese
engherzigen Barone zunutze machen.«
Sie wandte sich um. »Ich gebe jedem einzelnen Bürger die Möglichkeit,
meinem Sohn und mir Treue zu schwören, dies auf einem Pergament festzulegen und
mit einem Siegel versehen zu lassen. Jede dieser kleinen Ameisen …«, sie
deutete zum Fenster, »… soll eine Stimme haben. Und wissen, dass diese Gewicht
hat, dass sie gehört wird, aber auch, dass ein Treueid eine Verpflichtung ist.«
»Was versprecht Ihr Euch davon?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
Es war ein Gefühl. Eines, das sie oft beschlich, wenn sie den Palast
verließ, um sich über die wundersamen Arbeiten an der Kathedrale aufklären zu
lassen, und sie unversehens in Gespräche mit einfachen Bürgern verwickelt
wurde. Mehr als einmal war sie in ein verfallenes Haus gegangen und hatte sich
entsetzt über die Not gezeigt, in der dort Menschen lebten, die genau wie sie atmeten,
arbeiteten und beteten. Oft dachte sie an Lisette, die, aus einfachen
Verhältnissen kommend, nach kurzer Lehrzeit relativ glaubwürdig die Königin
hatte vertreten können.
»Mauclerc wird nicht aufgeben, aber auch nicht so schnell wieder
zuschlagen«, sagte sie. »Ich kenne ihn. Er wird sich mühen, noch mehr meiner
Männer auf seine Seite zu ziehen, und ihnen Versprechungen machen. Das dauert.
Aber solange dieses Pamphlet kursiert …« Sie spuckte auf das Pergament mit dem
Schmähgedicht, »… solange, lieber Theobald, solltest du nicht in meiner Nähe
verweilen, denn wir wollen den Gerüchten keine weitere Nahrung geben.«
»Herrin, schickt mich nicht wieder fort!«
»Begleite Clara nach Toulouse«, sagte sie kühl. »Graf Raimund ist
immer noch unser Gegner. Aber ich habe vernommen, dass er allmählich verarmt.
Sein Land hat sich nicht von den Verwüstungen erholt, die mein Ludwig dort
angerichtet hat. Er soll aufhören, die Ketzer zu unterstützen, und sich unter
unser Dach begeben. Ich werde meinem Cousin ein ehrenhaftes Angebot
unterbreiten. Du überreichst ihm meinen Brief, und ich werde auf Clara
einwirken, damit sie ihren Bruder überzeugt. Ihr reist morgen ab.«
10
Sinneswechsel
Was sind wir Menschen doch ein Wohnhaus grimmer Schmerzen,
ein Ball des falschen Glücks, ein Irrlicht dieser Zeit,
ein Schauplatz herber Angst, besetzt mit scharfem Leid,
ein bald verschmelzter Schnee und abgebrannte Kerzen.
Andreas Gryphius (1616–1664)
Wie soll das einfache Volk denn nicht beeindruckt sein,
wenn es beobachtet, wie die »Vollkommenen« ehrlich fasten, enthaltsam leben,
sich unauffällig kleiden und zu Fuß gehen, während Ihr Euch mit erheblichem
Aufwand fortbewegt?
Der heilige Dominicus (Domingo de Guzmán,
kastilischer Geistlicher) um 1215 in Toulouse
V on freundlichem frühsommerlichem Wetter begünstigt, kamen
Theobald und Clara schnell voran. In der ersten Woche, als sie noch ein
größerer Trupp von Theobalds Rittern begleitete, blieb Clara meist für sich, da
der Graf von Champagne noch vieles im eigenen Land zu regeln hatte und Aufträge
an Leute verteilte, die sich dann von dem Zug nach Süden trennten. Wie Clara
vernahm, sollten vor allem die Burgen der Champagne besser befestigt werden, da
Theobald einen Einfall Mauclercs in sein Land befürchtete. Natürlich wollte dieser
seine Tochter nun nicht mehr mit Blankas Sohn verheiraten.
Theobald versicherte seinen Männern, sich selbst nicht lange im
Süden aufhalten zu wollen, sondern so schnell wie möglich in seine Hauptstadt
Troyes zurückzukehren.
»Wir stehen treu zum Königshaus«, hörte ihn Clara immer wieder
sagen, »und so wie wir es schützen, wird es auch uns zu Hilfe eilen, sollten
wir in Not geraten.«
Es war wichtig, diese Nachricht bis in die letzte Ecke der Champagne
weiterzugeben, denn in manch abgelegenen Orten durfte jetzt erst die Drohung
des verstorbenen Königs eingetroffen sein. Es war noch kein Jahr
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