Die Kathedrale der Ketzerin
sagte er mit leichter Schärfe in der Stimme, »dir ist
nur Johannas Ausbildung anvertraut, um ihre sittliche Erziehung bemühe ich mich
selbst.«
»Und wo ziehe ich da die Grenze?«, konnte sich der junge Lehrer
nicht enthalten zu fragen.
»Da, wo es um Glauben geht«, sagte Raimund bestimmt. »Du vermittelst
ihr Wissen. Überliefertes, verbürgtes, allgemein anerkanntes Wissen, das ein
junges Mädchen aufnehmen und verarbeiten kann. Wissen, das zum künftigen Leben
meiner Tochter passt.Ich lasse mich mit dir jetzt nicht in eine Diskussion über
fließende Grenzen und den Zusammenhang von allem mit einem ein.«
Das Kind blieb plötzlich stehen, wandte sich um, sah Vater und
Lehrer aus leicht schrägen hellgrauen Augen an, die sich mit Tränen gefüllt
hatten.
»Was ist dir, Johanna?«, fragte Raimund beunruhigt. Es war verteufelt
schwer, eine Tochter ohne Mutter aufzuziehen. Natürlich hätte er ein so
unbedeutendes Geschöpf wie ein Mädchen der ausschließlichen Obhut der Frauen
seines Hofs anvertrauen und vergessen können, aber sie war sein einziges Kind,
seine einzige persönliche Hoffnung für die Zukunft. Und er liebte sie.
Seine Gemahlin Sancha von Aragon hatte das eheliche Bett nicht
geschätzt und ihm nach der Geburt der Tochter beschieden, so etwas nie wieder
durchstehen zu wollen. Erst hatte sie das gemeinsame Gemach verlassen und dann
die Burg von Toulouse. An allem sei sein unglaubliches Verständnis für die
Ketzer schuld, hatte sie geklagt. Er habe es sich mit dem König von Frankreich
verdorben, der sein Land verheert hatte, mit ihrer gemeinsamen Cousine Blanka
und mit dem Heiligen Vater sowieso, nur um in die Irre geführten, abgerissenen
Menschen ihre seltsamen Weltvorstellungen zu erhalten.
»Was soll ich denn machen, es sind die Menschen, für die ich
verantwortlich bin«, hatte er verzweifelt erwidert und sie angefleht, nicht zum
Hof ihres Vaters König Alfons von Aragon zurückzukehren.
»Dort gibt es wenigstens genug zu essen«, hatte sie erwidert,
während sie ihre Sachen packen ließ.
»Und hier gibt es deine Tochter«, hatte er zurückgegeben.
»Die ist mir fremd«, hatte seine Frau kühl entgegnet, »sie hat mir
unglaubliche Schmerzen und keinerlei Freude bereitet. Sie ist von deinem Blut,
Raimund, und hat mich nur ausgesaugt.«
Dieser fürchterliche Satz hatte das Saatkorn der Liebe zu seiner
Tochter in ihm aufkeimen lassen. Ohne ein weiteres Wort war Sancha aus seinem
Leben verschwunden. Was er jetzt gelegentlich bedauerte. Aus dem Säugling, den
die Mutter zurückgewiesen hatte, war ein hellwaches Geschöpf geworden, das viel
Freude bereitete. Sancha hatte sich selbst um diese Erfahrung betrogen.
Johanna wischte sich ein paar schwarze Strähnen aus dem Gesicht, sah
Vater und Lehrer verzweifelt an und sagte: »Wie kann ich weiter über das Gras
gehen, wenn unter meinen Füßen so viele kleine Tiere sterben?«
Alexander war hingerissen; Raimund verstört.
»Du kannst nicht einfach über
alles hinwegschweben. Das liegt nun mal nicht in der Natur des Menschen,
Clara«, sagte er.
»Ich heiße nicht Clara!«
»Natürlich nicht«, sagte er erschrocken. »Entschuldige, Johanna,
aber deine Tante, meine Schwester Clara, hat mir vor ganz langer Zeit das
Gleiche gesagt. Da war sie etwa so alt wie du jetzt.«
Was ist wohl aus dieser Frau geworden, fragte sich Alexander, hat
sie sich uns angeschlossen? Habe ich deshalb nie etwas von ihr gehört?
»Warum besucht sie uns nie, meine Tante?«, wollte Clara wissen.
»Sie war einmal hier. Kurz vor deiner Geburt«, sagte Raimund und
unterdrückte den Ingrimm, der ihn bei der Erinnerung an Claras damalige
Begleiter erfasste. »Sie lebt bei unserer Cousine Königin Blanka in Paris und
hat anderes zu tun, als uns aufzusuchen.«
»Ist sie mir ähnlich?«, fragte das Kind neugierig.
»Nein«, antwortete Raimund kurz. Johanna war Clara nicht ähnlich,
sie war ihr Abbild. Äußerlich und innerlich. Dieser Gedanke ließ ihn
erschauern.
Angekündigt war der Graf von Champagne. Nicht angekündigt
war die Frau, die an seiner Seite in Toulouse einritt. Graf Raimund stand auf
den Stufen seines Palasts und rang um Fassung.
Clara strahlte.
Ihr Bruder in seiner edlen dunklen Schönheit hatte sich wenig
verändert. Vielleicht war sein Leib etwas schmaler und sein Gesicht kantiger
geworden, aber noch stets umgab ihn die Aura eines Menschen, der in sich ruhte
und andere begeistern konnte.
Sie sprang von ihrem Pferd und
eilte auf den Mann zu, der
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