Die Kathedrale der Ketzerin
mehr ausgemergelte Leiber vor
dem Tor der Burg von Toulouse, reckten sich mehr ausgestreckte Hände Clara und
Johanna entgegen und bettelten mehr Stimmen um Essen.
»Warum lässt Gott kein Brot vom Himmel regnen?«, fragte Johanna
verzweifelt, nachdem sie mit Clara die kargen Überreste der gräflichen Tafel an
Bedürftige ausgeteilt hatte. Um später mehr abgeben zu können, hatte die kleine
Grafentochter selbst fast nichts gegessen, erkannte aber jetzt, wie wenig ihr
Opfer die offenkundige Not zu lindern vermochte. »Warum lässt Gott die Menschen
verhungern, wenn er doch gütig ist?«
»Vielleicht ist er auf Erden nicht so allmächtig, wie er es gern
wäre«, murmelte Clara. »Vielleicht hat der wahre Herrscher der Welt den Körper
erschaffen, um ihn Qualen auszusetzen.«
»Aber Gott ist doch barmherzig und liebt uns!«
Flehen nach Bestätigung, Verzagtheit, Wut und Zweifel schwangen in
Johannas Ausruf mit. Es kostete Clara große Überwindung, sich an Raimunds Gebot
zu halten. Zu gern hätte sie die Gunst der Stunde genutzt, um ihrer Nichte die
Welt aus katharischer Sicht zu erklären. Aber sie war ohnehin schon sehr weit
gegangen.
Zu weit, dachte sie, als Raimund sie am Abend unter vier Augen zu
sprechen wünschte. Voller Furcht, ihres Ungehorsams wegen vom Grafenhof
verwiesen zu werden, betrat sie die Beratungskammer ihres Bruders. Ach, hätte
ich doch nur den Mund gehalten!
Mit dem Blick zur Tür saß er auf einem ungepolsterten Stuhl. Öllicht
und Wandfackel warfen mehr Schatten als Licht auf Raimunds zerquältes Antlitz,
das von schmerzlicher Melancholie gezeichnet war.
Clara setzte sich auf eine Bank ihm gegenüber und wartete. Raimund
sagte lange Zeit kein Wort. Schließlich hob er die Hände, die lang, knochig und
völlig unbeweglich wie zwei kauernde Zwillingstiere auf den Schenkeln geruht
hatten. Er legte die Fingerspitzen unter seiner Nase aneinander und
flüsterte: »Clara, ich werde aufgeben. Alles ist vorbei. Wir haben verloren.«
Es ging nicht um ihre Verfehlung. Das wäre Clara sehr viel lieber
gewesen als die Mitteilung, die sie nun zu hören bekam: Ihr Bruder war
entschlossen, sich der französischen Krone zu unterwerfen.
»Ich habe dem Grafen von Champagne eine Botschaft gesandt«, sagte
Raimund tonlos. »Er möge mit meiner Cousine Blanka Verhandlungen aufnehmen.
Sobald ich von ihm höre, werde ich nach Norden reiten. Sollte ich jemals nach
Toulouse zurückkehren, dann nur noch als
Vasall des französischen Königs.«
Clara sprang von der Bank.
»Das kannst du nicht tun!«, schrie sie. »Du verrätst deine
Leute!«
»Deine, meinst du wohl«, erwiderte Raimund müde. Er stand ebenfalls
auf, schwerfällig wie ein uralter Mann. »Mein Land ist verheert, Clara, und
meine Leute sterben. Humbert de Beaujeu hat uns mit seinem Wüten ausgehungert.
Er hat sein Ziel erreicht. Wir haben ihm nichts und niemanden mehr
entgegenzusetzen.«
»Denk an Castelsarrasin!«, rief sie verzweifelt. »Da hast du doch
bewiesen, dass du die Mannen des Königs schlagen kannst!«
»Das ist schon über ein Jahr her, Clara, und wie du weißt, hat uns
Beaujeu seitdem einen Landstrich nach dem anderen abgenommen. Sogar die Festung
Termes ist gefallen. Es ist vorbei. Ich ergebe mich lieber meiner Cousine als
diesem Mann.«
Er trat auf seine Schwester zu und legte ihr seine Hand auf die
Schulter.
»Ich teile dir dies jetzt mit, auf dass du Vorkehrungen für dich
selbst treffen und dich rechtzeitig in Sicherheit bringen kannst.«
Clara legte eine Hand auf die ihres Bruders, starrte ihn aus
erschrockenen Augen an und fragte ungläubig: »Du wirst uns jagen und
töten?«
»Das werde ich versprechen und auch einhalten müssen«, erwiderte
Raimund unglücklich. »Deshalb musst du fort von hier. Ziehe mit unserem
Alexander und den anderen auf den Montségur. Dort seid ihr fernab und
geschützt. Auch wenn ich hiermit mein künftiges Wort gegenüber Frankreich
breche, gelobe ich, bei allem, was mir heilig ist, beim Leben meiner Tochter,
dass ich euch auf jenem Felsen der Pyrenäen nicht verfolgen werde.«
»Ich rühre mich nicht vom Fleck, bis du Antwort von Graf Theobald
hast«, erklärte Clara hoheitsvoll und wandte sich zur Tür.
»Warte …« Raimund zögerte einen Augenblick. Eine feine Röte zog über
sein sonst so blasses Gesicht, als er leise fragte: »Sag mir die Wahrheit,
Clara, du hast wirklich nicht in Erfahrung bringen können, wo sich die Näherin
Lisette aufhält?«
»Soll sie vielleicht als Erste
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