Die Katze
Vergangenheit ist nie wirklich vergangen. Manchmal ist sie eine starke Stütze, viel häufiger jedoch lastet sie schwer auf unseren Schultern - wie ein Totenhemd, dessen Gewicht uns nach unten zieht, am Boden fesselt und bisweilen sogar lebendig begräbt. Und selbst wenn wir die Chance bekommen, uns von diesen Fesseln zu befreien, klammern wir uns seltsamerweise nur allzu oft daran.
»Du bist keine zwei Jahre mehr alt«, erklärte meine Mutter meinem Bruder an jenem Abend. »Alles, was du mir vorwirfst, mag stimmen, aber du bist jetzt erwachsen, und nun ist es dein Problem.« Das ist stark verkürzt und mit meinen Worten wiedergegeben, die Botschaft jedoch ist klar: Du bist erwachsen. Dumm gelaufen. Komm damit klar.
Es ging nicht nur um meinen Bruder, wurde mir in diesem Moment bewusst. Auch ich bin erwachsen und habe meine Probleme. Mit meinem Vater zum Beispiel, mit dem ich zu lange nicht mehr gesprochen hatte. Weil er die Tatsache, dass ich meine Mutter wieder in meinem Leben akzeptiert habe, als persönliche Zurückweisung seiner Person auffassen möchte. Doch ich wollte Frieden schließen, um meinetwillen wie um seinetwillen. Also habe ich ihn in New Haven angerufen, mich für die späte Störung und all den Kummer entschuldigt, den ich ihm im Laufe der Jahre bereitet habe. Ich habe meinen Stolz begraben und ihn förmlich angefleht, mich nicht weiter zu zwingen, mich zwischen meiner Mutter und ihm zu entscheiden. Er hat mich kalt abgewiesen. Wörtlich sagte er: »Ich habe mich vor zweiundzwanzig Jahren entschieden, für den Rest meines Lebens wütend, verbittert und unnachsichtig zu sein.«
Hallo?!
Warum trifft jemand die bewusste Entscheidung, für den Rest seines Lebens wütend, verbittert und unnachsichtig zu sein? Die Entscheidung, vorsätzlich, aktiv, ja sogar aggressiv unglücklich zu sein? Ergibt das irgendeinen Sinn? Offenbar schon. Wenigstens für meinen Vater. Du bist entweder für mich oder gegen mich, sagt er. Komm damit klar.
Okay. Also komme ich damit klar, Dad. Ich sage, manche
Menschen sind den Schmerz nicht wert, den es bereitet, sie zu lieben, weil Liebe sowohl geschätzt wie verdient sein will, und wenn du dich entscheidest, dein Leben so zu leben, musst du es ohne mich tun. Als Kind habe ich mich angesichts deines Zorns und deiner Verbitterung elend und allein gefühlt. Du warst gefühllos in deinen Worten und achtlos in deinen Taten. Du hast mir Angst gemacht. Und heute machst du mir sogar noch mehr Angst. Ich habe selbst Kinder. Sie müssen vor Menschen wie dir geschützt werden.
Damit will ich nicht sagen, dass ich meine Familie komplett aufgegeben habe. Ich hoffe nach wie vor, eines Abends meinen Bruder und meine Schwestern um meinen Tisch zu versammeln, um Moms berühmtes Hühnchen zu genießen. Fürs Erste lasse ich den Hund bei einem Nachbarn, packe meine Kinder, meine Mutter und den neuen Mann in meinem Leben ins Auto und fahre mit ihnen nach Disney World, um meinen Geburtstag zu feiern.
Offenbar bin ich endlich erwachsen geworden.
Charley starrte auf ihren Bildschirm und las die Kolumne, die sie für die Ausgabe vom kommenden Sonntag geschrieben hatte, mehrmals durch. Würden ihre Schwestern sie lesen? Oder Bram? Oder ihr Vater? Wahrscheinlich nicht. »Egal«, sagte sie laut und schickte den Artikel per E-Mail an Mitchell, damit der ihn redigieren und seinen Senf dazu abgeben konnte.
»Was ist egal?«
Charley fuhr herum. »Glen!« Sie sprang auf und musterte den Mann in dem weißen Seidenhemd und der maßgeschneiderten schwarzen Hose, der im Eingang zu ihrer Nische stand. Er sah unverschämt gut aus. Was machte er hier? »Seit wann sind Sie wieder in der Stadt? Und warum hat die Empfangssekretärin mir nicht Bescheid gesagt?«
»Ich bin seit gestern Abend zurück. Und sie hat nicht Bescheid gesagt, weil ich ihr erklärt habe, dass ich Sie überraschen wollte. Störe ich?«
»Nein. Genau genommen bin ich gerade mit der Kolumne für Sonntag fertig geworden.«
»Und wie geht es Ihnen? Sie sehen hinreißend aus wie immer.«
»Ich fühle mich ziemlich gut.« War er gekommen, um ihr zu sagen, dass er Bandit so bald wie möglich zurückhaben wollte? »Wie war der Besuch bei Ihrem Sohn?«
»Fantastisch. Er ist der beste Junge der Welt.«
Irgendetwas an Glens Tonfall ließ Charley aufhorchen. »Probleme?«
»Eigentlich nicht. Können wir beim Mittagessen darüber reden?«
»Beim Mittagessen?«
»Ich hab einen Tisch bei Renato’s reserviert.«
Charley spürte, wie
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