Die Katze
flüchten... Es wird Zeit, nach vorne zu blicken und dir ein eigenes Leben aufzubauen… Man kann seiner Mutter nicht ewig die Schuld geben.
»Oder seinem Vater«, sagte Charley laut, wählte seine Nummer, bevor sie es sich anders überlegen konnte, und lauschte, wie das Telefon zweimal klingelte, bevor abgenommen wurde.
»Robert Webb«, meldete sich eine kultivierte Stimme ohne jede Spur von Müdigkeit.
Charley hörte das Rascheln von Papier und fragte sich, von
welcher der drei Tageszeitungen, die er jeden Abend las - The New York Times , The Washington Post und New Haven Register -, sie ihn abhielt. »Dad, ich bin’s, Charley.« Es entstand ein Schweigen, bis Charley schon fürchtete, ihr Vater habe ohne ein Wort wieder aufgelegt. »Dad?«
»Was kann ich für dich tun, Charlotte?«
Charley spürte, wie ihr Atem schmerzhaft stockend wurde. Die Stimme ihres Vaters verriet keinerlei Gefühle, was sie nicht überraschte, zumal sie sich oft gefragt hatte, ob er überhaupt welche hatte. Trotzdem, es war beinahe Mitternacht, und sie hatten fast zwei Jahre lang nicht miteinander gesprochen. Musste er so sachlich klingen? »Wie geht es dir?«, fragte sie mutlos.
»Gut.«
Er hatte offensichtlich nicht vor, es ihr leicht zu machen. »Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe. Aber ich habe mich daran erinnert, dass du selten vor eins ins Bett gehst.«
Schweigen. Dann: »Rufst du aus einem bestimmten Grund an, Charlotte?«
»Eigentlich nicht. Ich meine, es ist alles in Ordnung und so. Den Kindern geht es super. Ich habe keine Probleme. Es war mehr so eine Art impulsives Ding.«
»Mehr so eine Art impulsives Ding«, wiederholte er, und Charley stellte sich vor, wie er ob der Formulierung das Gesicht verzog.
»Ich habe mich bloß gefragt, wie es dir geht, was du gemacht hast...«
»Mir geht es gut, und ich mache mehr oder weniger das Gleiche, was ich immer gemacht habe. Ich lehre, fahre zu Kongressen und lese.«
»Hast du Emily und Anne in letzter Zeit gesehen?«
»Sie halten Kontakt.«
»Annes Buch verkauft sich wirklich sehr gut.«
»Allem Anschein nach.«
»Hast du es gelesen? Es ist eigentlich ziemlich gut. Ich meine, keine hohe Literatur oder so«, schränkte sie, seine Missbilligung spürend, ein, »aber ich war überrascht, wie gerne ich es gelesen habe. Ich konnte es nicht wieder weglegen. Und das ist ja immerhin was.«
»Und was wäre das?«
Charley spürte, dass er auf die Uhr neben seinem Bett blickte. Sie holte tief Luft. »Ich habe übrigens auch gerade einen Buchvertrag abgeschlossen. Ein Sachbuch. Über Jill Rohmer. Sie hat drei Kinder umgebracht, deren Babysitter sie war...«
»Klingt wie etwas, das dich interessieren würde.«
Charley versuchte seinen abschätzigen Ton zu ignorieren, aber es piekste sie bis ins Herz, brannte wie der Stich einer Wespe. »Du hast doch immer davon gesprochen, ein Buch zu schreiben«, sagte sie. »Was ist daraus geworden?«
»Ernste Literatur verlangt viel Zeit und tiefes Nachdenken. So etwas lässt sich nicht mal eben so in der Freizeit hinhauen. Und davon habe ich ohnehin bedenklich wenig, fürchte ich.«
»Manchmal muss man sich die Zeit einfach nehmen «, sagte Charley.
»Das werde ich mir merken. Sonst noch was?«
»Nein. Ja«, korrigierte Charley sich und redete weiter, bevor sie den Mut verlor. Die Worte strömten aus ihrem Mund wie Wasser aus einem Hahn. »Du bist mein Vater. Wir sind eine Familie. Und wir sehen uns nie. Wir sprechen nie miteinander. Und so muss es nicht sein. Es tut mir leid, dass ich dich enttäuscht habe. Ehrlich. Ich weiß, dass ich keine perfekte Tochter bin. Weit davon entfernt. Aber du hast mich auch enttäuscht. Ich habe mir gewünscht, dass du in vielerlei Hinsicht anders gewesen wärst. Aber das bist du nicht. Du bist der, der du bist, und das muss ich akzeptieren. Genauso wie ich hoffe, dass du mich als die akzeptieren kannst, die ich bin. Wir sind Menschen. Wir treffen Entscheidungen, und wir machen Fehler. Aber das gehört zum Erwachsensein dazu, oder nicht? Die
Verantwortung für Entscheidungen zu übernehmen, die man trifft, die Entscheidungen der anderen zu akzeptieren lernen und nach vorne zu blicken.«
»Und was willst du mit deiner kleinen Rede nun eigentlich sagen...?«
»Ich will sagen, dass die Entscheidung, ob ich eine Beziehung zu meiner Mutter habe oder nicht, keinen Einfluss auf meine Beziehung zu dir haben sollte. Eins negiert das andere nicht. Dass ich sie treffe, tilgt nicht das, was du für mich
Weitere Kostenlose Bücher