Die Katze
Augen ganz feucht.
»Hast du auch was ins Auge gekriegt?«, fragte James und verengte argwöhnisch den Blick.
»Schriftstellerin ist ein wunderbarer Beruf«, sagte Elizabeth Webb.
»Ich werde auch Schriftsteller«, stimmte James ihr zu. »Und Nachtclubbesitzer«.
»Was ist aus dem Koch geworden?«, fragte Charley.
»Was ist aus meinem Kartoffelbrei geworden?«, rief Elizabeth mit gespieltem Entsetzen.
»Oje.« James rannte zurück in die Küche, Franny folgte ihm gemesseneren Schrittes.
»Mom«, flüsterte Charley. »Es tut mir wirklich leid.«
»Schon gut.«
»Nein, es ist nicht gut.«
»Harten Nachmittag gehabt?«, fragte ihre Mutter und steckte ein paar lose Strähnen in den lockeren Knoten in ihrem Nacken.
»Das ist keine Entschuldigung.«
Ihre Mutter lächelte, obwohl das Lächeln von kleinen Sorgenfalten eingeklammert war, die ihre Lippen zittern ließen. »Ich liebe dich, Charley«, erklärte sie schlicht. »Ich habe dich immer geliebt. Ich hoffe, das weißt du.«
Charley nickte. Aber sie dachte: Wenn du mich geliebt hast,
warum hast du mich dann verlassen? Wie konntest du einfach so weggehen? Ich weiß, es war nicht leicht, mit meinem Vater zu leben, aber wie konntest du deine Kinder einfach zurücklassen? Was für eine Mutter macht so etwas? Ich könnte Franny und James ebenso wenig verlassen, wie ich mir das Herz herausschneiden kann. Glaubst du wirklich, du könntest zwanzig Jahre später einfach wieder auftauchen, Hühnchen und Kartoffelbrei kochen, und alles wäre vergessen und vergeben? Glaubst du das? Glaubst du, dass es so einfach ist?
»Warum drückst du mich nicht einfach mal?«, sagte ihre Mutter und machte zögerlich einen Schritt nach vorn.
Charley wich instinktiv einen Schritt zurück.
»Grandma!«, rief James aus der Küche.
»Ich komme«, antwortete Elizabeth, ohne den Blick von Charley zu wenden.
Die beiden Frauen starrten sich mehrere Sekunden an, ohne dass sich eine von beiden rührte.
»Grandma!«
»Wahrscheinlich siehst du besser mal nach«, sagte Charley mit einem dumpfen Pochen in der Brust, als ihre Mutter sich abwandte und Richtung Küche ging.
»Wie war es eigentlich, mit einer anderen Frau zusammen zu sein?«, fragte Charley ihre Mutter, nachdem die Kinder friedlich schliefen. Die beiden saßen im Wohnzimmer und teilten sich den Rest einer nicht allzu teuren Flasche Bordeaux. Charley saß an einen Stuhl gelehnt auf dem Boden, die Beine ausgestreckt, während ihre Mutter am Ende des Sofas hockte, die Knöchel unter ihrem langen Faltenrock züchtig gekreuzt.
Charley erwartete, dass ihre Mutter empört die Schultern recken und das Thema wechseln würde, aber stattdessen trank Elizabeth Webb noch einen Schluck Wein und antwortete: »Anfangs war es ein bisschen seltsam. Aber danach war es ziemlich schön.«
»Ziemlich schön?«
»Wie soll ich es sagen?«, fragte ihre Mutter mehr sich selbst als Charley und ließ dann etliche Sekunden ohne Antwort verstreichen.
»Du musst dir keine Sorgen machen«, erklärte Charley, ihr Schweigen missdeutend. »Das Gespräch bleibt unter uns.«
»Darüber mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Meinetwegen kannst du es wortwörtlich wiedergeben, wenn du magst.«
Konnte sie darüber schreiben?, fragte Charley sich. Meine Mutter, die Lesbe . Oder wie wär’s mit: Meine Mutter ist bi ? Das müsste doch für ein paar gereizte E-Mails gut sein.
»Was genau willst du wissen?«, fragte ihre Mutter.
»Ich weiß nicht so recht.«
»Fragst du mich, wie es körperlich war?«
Gütiger Gott. Fragte sie das? »Ich schätze, das auch.«
»Körperlich ist es seltsam. Zumindest am Anfang«, antwortete ihre Mutter mit entwaffnender Offenheit. »Ich meine, man muss sich auf eine ganze Reihe neuer Formen, Gerüche und Geschmäcker einstellen, und es dauert eine Weile, sich daran zu gewöhnen. Es ist leichter zu nehmen, muss ich gestehen. Viel leichter, einfach dazuliegen, die Augen zu schließen und zu genießen. Aber das ist ziemlich egoistisch, und irgendwann muss man selbst gewissermaßen den aktiven Part übernehmen. Dann wird das Ganze ein wenig zum Abenteuer. Aber es ist schwer, das Körperliche von den Gefühlen zu trennen. Das eine fließt einfach irgendwie ins andere über. Ich war ja nicht von Geburt an so gepolt.« Sie trank einen Schluck Wein. »Ich weiß, dass das nicht direkt politisch korrekt ist, aber in meinem Fall - und ich kann nur für mich und aus meiner Erfahrung sprechen - habe ich mich nie als Lesbierin
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