Die Katze
betrachtet. Das tue ich nach wie vor nicht. Im Gegenteil. Ich habe mich immer sehr für Männer interessiert - das tue ich bis heute. Ich habe Sex mit Männern immer genossen, auch mit deinem Vater. Er war sogar ein ziemlich guter Liebhaber. Überraschenderweise.« Sie
lächelte Charley an. »Geht es dir gut, Schätzchen? Du siehst ein bisschen blass aus.«
Charley trank einen großen Schluck Wein und versuchte, sich auszumalen, wie ihre Eltern miteinander geschafen hatten. Aber es war unmöglich, sich ihren Vater in irgendeiner Beziehung als leidenschaftlich vorzustellen.
»Leider hat es nicht annähernd gereicht, ein guter Liebhaber zu sein«, fuhr ihre Mutter fort. »Das heißt, eine Zeitlang schon. Ich war jedenfalls so damit beschäftigt, Babys zu werfen, dass ich nie Zeit hatte, innezuhalten und darüber nachzudenken, wie unglücklich ich war. Außerhalb des Schlafzimmers haben wir kaum ein Wort miteinander gesprochen, und im Schlafzimmer passierte irgendwann auch nichts mehr. Vielleicht lag es an mir. Ich weiß es nicht. Es schien nur, als könnte ich nichts richtig machen. Dein Vater war, wie du weißt, sehr anspruchsvoll, ein absoluter Perfektionist in allem, und ich war eher schlampig.« Wie auf Stichwort wischte sie ein paar Tropfen Wein vom Stiel ihres Glases und strich ein paar Brotkrumen von ihrer weißen Bluse. »Nun, wenn man sich um vier Kinder kümmern muss, ist es schwer, nicht schlampig zu sein, aber das verstand er nicht. Er saß mir ständig im Nacken. Immer kritisch. Nichts, was ich tat, war richtig, nichts war je gut genug. Weder meine Kochkünste noch meine haushälterischen Fähigkeiten und schon gar nicht meine Erziehungsbemühungen. Er missbilligte meine Freundinnen, die Bücher, die ich las, die Filme, die ich sehen wollte. Ich will nicht nach Entschuldigungen suchen - oder vielleicht will ich das doch«, verbesserte sie sich rasch. »Aber ich war einfach so einsam.« Sie goss den Rest Wein aus der Flasche in ihr Glas. »Und man ist nie einsamer als in einer unglücklichen Ehe.«
»Wann hast du Sharon kennengelernt?«, hörte Charley sich fragen.
»Ein halbes Jahr nach Brams Geburt. Ich bin im Lebensmittelladen buchstäblich in sie hineingerannt, mit dem Kinderwagen
über ihren Fuß gefahren und prompt in Tränen ausgebrochen. Kannst du das glauben - sie hatte sich wehgetan, und ich habe geweint. Sie war unglaublich nett zu mir. Wir sind ins Gespräch gekommen. Irgendwas hat einfach Klick gemacht. Sie kam aus Australien, wo ich schon immer einmal hinwollte. Aber dein Vater war ja nicht fürs Reisen. Sie war jedenfalls für ein Jahr in New Haven, wo sie an ihrer Doktorarbeit in Anthropologie arbeitete. Ich fand sie faszinierend. Ich habe ihr unheimlich gern zugehört. Dieser wunderbare australische Akzent. Und so unvoreingenommen. Das absolute Gegenteil von deinem Vater. Ich habe mich ein bisschen in sie verknallt. Es war gar nichts Körperliches, jedenfalls am Anfang nicht.
Sie war lesbisch. Das wusste ich. Sie machte kein Geheimnis daraus. Sie sagte, sie wäre ihr ganzes Leben lang lesbisch gewesen, eine jener Frauen, die von einem frühen Alter an gewusst hatten, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlen. Ich habe ihr erklärt, ich sei nicht lesbisch, und sie hat das akzeptiert. Wir wurden sehr enge Freundinnen. Ich wollte einfach in ihrer Nähe sein. Bei ihr fühlte ich mich sicher.
Und dann hatte ich eines Abends einen Streit mit deinem Vater über etwas völlig Triviales. Der Streit eskalierte, wie es so geht, und ehe ich mich versah, weinte ich mich an Sharons Schulter aus, und sie tröstete mich, küsste meine Haare und erklärte mir, alles würde gut werden, und dann … ich weiß nicht. Es ist einfach passiert.«
»So etwas passiert nie einfach so«, erwiderte Charley mit mehr Überzeugung, als sie empfand.
»Nein, vielleicht nicht«, räumte ihre Mutter überraschend bereitwillig ein. »Vielleicht wusste ich, als ich zu ihr ging, schon, was passieren würde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich zum ersten Mal seit Urzeiten geliebt fühlte. Und es spielte keine Rolle, dass Sharon eine Frau war. Wichtig war nur das Gefühl, das sie mir vermittelte.«
»Und deine Kinder?«, fragte Charley kühl, und die kameradschaftliche
Atmosphäre des Abends war augenblicklich verflogen. »Waren die überhaupt nicht wichtig?«
»Ich werde es bis zum Tag meines Todes bereuen, euch verlassen zu haben«, sagte ihre Mutter.
Im selben Moment drehte sich ein Schlüssel im
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