Die Kaufmannstochter von Lübeck
Johanna hinüber. »Na ja, was das zänkische Wesen betrifft, so muss das dann wohl woanders herkommen.«
»Was für ein zänkisches Wesen, Grete? So schlimm ist das bei dir gar nicht!«
Grete lächelte. Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Es ist eigenartig, über solche Dinge zu reden, jetzt, da wir die letzten Überlebenden unserer Familie sind, Johanna.«
»Solange wir sie in Ehren halten und uns an sie erinnern, wird es so sein, als wären unsere Eltern nie gestorben, Grete.«
»Ja«, antwortete Grete leise.
Tage vergingen. Sie hielten sich abseits von Ortschaften, damit sich später niemand an sie erinnern konnte. Auch von den Häfen an der Küste hielten sie sich fern.
Weit abseits der florierenden Hansestädte Rostock und Wismar wie auch der Residenzen der Herren von Mecklenburg und Pommern setzten sie ihren Weg fort. Das Wetter wurde schlecht. Es regnete tagelang, und schließlich war ihre Kleidung so durchnässt und schmutzig, dass sie wohl unter den Bauern gar nicht weiter aufgefallen wären. Die meisten Nächte hatten sie im Freien zugebracht.
Als sie dann Stralsund erreichten, wurde das Wetter besser. Es war ein sonniger Tag, und als sie am späten Nachmittag in Sichtweite der Stadt kamen, waren ihrer Kleider zum ersten Mal seit Tagen wieder einigermaßen trocken.
In den Werften und im Hafen herrschte ebenso Hochbetrieb, wie sie es aus Lübeck kannten. In Stralsund schien man ebenfalls die Flotte auszubauen, und viele Schiffe standen wohl kurz vor der Fertigstellung. Das Schlagen der Hämmer war weithin zu hören und mischte sich mit den Möwenschreien und dem Meeresrauschen. Über eine der Brücken, die Stralsund mit dem pommerschen Festland verband, gelangten sie in die Stadt. In den Straßen herrschte geschäftiges Treiben.
»Ich hoffe, Jeremias kann uns zeigen, wohin wir uns wenden müssen«, meinte Grete.
»Es ist lange her, dass ich hier war«, sagte Jeremias daraufhin. »Und auch wenn vieles gleich geblieben ist, so hat sich doch noch mehr verändert.«
»Wir sollten nach Wolfgang Prebendonk fragen! Es wird ihn doch sicher jemand kennen«, schlug Grete vor. »Nein, am besten fragen wir gleich nach Berthold Metzger, dem Pharao von Stralsund! Und dort werden wir dann auch Wolfgang finden.«
»Nein«, widersprach Johanna so bestimmend, dass Grete nicht zu widersprechen wagte. »Noch auffälliger könnten wir uns nicht verhalten! Es könnte gut sein, dass die Kunde über uns bereits hier angekommen ist und man an entscheidender Stelle sehr wohl darüber Bescheid weiß, wessen man uns beschuldigt!«
»Ach, Johanna!«
»Koggen sind schneller als Reiter, Grete. Und das Wetter ist gut. Es werden andauernd Schiffe aus Lübeck hier in Stralsund anlegen. Nein, wir müssen uns verborgen halten und erst einmal sehen, wie die Lage ist. Vielleicht kann Wolfgang uns helfen. Genauso gut könnten wir aber auch in eine Falle tappen, ohne es rechtzeitig zu merken.«
»Und was schlägst du dann vor, Schwester?«
Johanna zügelte ihr Pferd. Der kleine Reitertrupp kam mitten auf dem Marktplatz zum Stehen, im Angesicht der ehrfurchtgebietenden Mauern von St. Nikolai. Johanna drehte sich im Sattel halb herum und strich die Kapuze ihres Umhangs zumindest so weit zurück, dass ihre Stirn zu sehen war. »Keiner von euch erwähnt den Namen unserer Familie. Wir sind Flüchtlinge, deren Haus und Hof von einem Feuer vernichtet wurden, das umherziehende Räuber gelegt haben. Wir konnten mit knapper Not entkommen. Mehr werden wir nicht offenbaren.«
»Damit haben wir noch nicht das Problem gelöst, wie wir Wolfgang finden.«
»Wir lassen ihn uns finden«, erwiderte Johanna.
»Und wie soll das geschehen?«
»Als Erstes suchen wir uns ein Gasthaus. Es sollte nicht zu prächtig ein. Keine Herberge, in der zu viele vornehme und reiche Reisende zu finden sind, die unsere Familie vielleicht kennen oder sogar in Lübeck in unserem Haus gewesen sind. Nein, es muss etwas Einfaches sein.«
Grete seufzte. »Und ich hatte mich schon darauf gefreut, dass wir irgendwo standesgemäß unterkommen.«
»Es ist standesgemäß, Grete.«
»So?«
»Standesgemäß für Leute, die jeden Stand verloren haben. Und genau in dieser Lage sind wir im Moment, Schwester. Alles, was war, ist Vergangenheit. Es ist wie ein abgebranntes Haus, das sich nicht wiederaufbauen lässt. Wir werden ganz von vorn beginnen müssen.«
Sie zogen in der Stadt umher, fragten mal hier und mal da nach einer geeigneten Herberge, bis sie schließlich ein
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