Die Kaufmannstochter von Lübeck
Anrede anzusprechen. Und obwohl es für sie einerseits ein Zeichen dafür war, dass er ihren Wunsch respektierte, so kam es ihr auf der anderen Seite doch ziemlich eigenartig vor. Die Erinnerung an das, was im Dom geschehen war, durchströmte noch immer ihre Gedanken und ihren Körper. Sie waren sich in diesen wenigen Momenten so nahe gewesen, dass es jetzt einfach absurd erschien, sich mit der Förmlichkeit von Fremden oder Geschäftspartnern zu begegnen.
»Ihr müsst wahnsinnig sein«, meinte Johanna.
»Warum? Jeden Tag halten irgendwo in dieser Stadt Männer um die Hand von Frauen an. Und in diesem Fall könnte Euer Vater nicht einmal einwenden, dass es keine Verbindung von Stand wäre, denn die Familie von Blekinge ist schließlich von Adel.«
»Frederik, wir kennen uns kaum!«
»Vorhin im Dom hatte ich einen anderen Eindruck.«
Sie blieb stehen und sah ihn an. Ihre Blicke verschmolzen miteinander, und Johanna wünschte sich jetzt nichts sehnlicher, als ihren so heftig aufgeflammten Gefühlen nachzugeben. Jemand wie Frederik mochte das tun. Jemand, der sich selbst keine größeren Verpflichtungen auferlegt hatte. Oder irrte sie sich? Hatte Frederik recht, wenn er sagte, dass sie sich ihm niemals hingegeben hätte, wenn es wirklich ihre Berufung gewesen wäre, ein Leben als Nonne zu führen und sich ganz dem Dienst für den Herrn zu widmen.
Nein , dachte sie, das ist zu einfach. So leicht kannst du dich nicht von deinem eigenen Versprechen befreien . Und die Tatsache, dass sie noch kein Gelübde abgelegt hatte, änderte daran zunächst einmal kaum etwas.
»Ihr habt recht, Frederik von Blekinge«, sagte sie dann mit belegter Stimme. »Ich würde nichts lieber tun, als einfach diesen machtvollen Empfindungen nachzugeben. Mein Leib sehnt sich schon wieder nach dem Euren, obwohl sich unsere Körper doch vorhin erst voneinander getrennt haben.«
»Dann hört auf Euer Herz. Und obwohl ich kein gelehrter Priester bin, kann ich mir nicht vorstellen, dass Gott von Euch verlangen würde, unglücklich zu sein.«
»Ach, Frederik …«
»Unter den zehn Geboten ist das jedenfalls nicht zu finden.«
Sie wich einen Schritt vor ihm zurück, und er respektierte das und näherte sich ihr nicht weiter.
»Ich glaube, dass Gott mich prüfen wollte«, sagte sie. »Dafür hat er mir Euch gesandt. So wie Jesus in der Wüste vom Satan versucht wurde …«
»So bin ich der Satan? Ich muss sagen, dass ich mir erhofft hatte, einen deutlich freundlicheren Eindruck auf Euch gemacht zu haben, Johanna!«
»So habe ich das nicht gemeint!«
»Dann erklärt es mir.«
»Es hat ausschließlich etwas mit mir zu tun, Frederik. An Euch ist nichts falsch und nichts sündhaft, außer dass wir alle der Sünde verfallen sind und den Herrn um Vergebung bitten müssen. Es geht um mich! Ich hätte der Versuchung widerstehen müssen, so wie es Jesus in der Wüste tat – aber ich tat es nicht. Anscheinend ist mein Glaube zu schwach, um der Verlockung des weltlichen Sinnesrausches zu widerstehen. Jetzt kann ich nur den Herrn um Verzeihung bitten und darum, dass er mir die Stärke gibt, auf den Weg zurückzukehren, der für mich bestimmt ist.«
»Und wenn Gott etwas ganz anderes für Euch bestimmt hat?«
»Folgt mir jetzt nicht weiter. Was geschehen ist, ist geschehen – und jeder von uns mag seine Sünden allein verantworten.«
»Wir werden uns im Rathaus sehen.«
»Lebt wohl, Frederik. Und macht es mir nicht noch schwerer, als es ohnehin schon ist.«
»Ich werde zu Eurer gewohnten Gebetszeit im Dom sein. Und wenn Ihr auch dort seid, ist das ein Zeichen, denn es gibt so viele Kirchen und Kapellen in Köln, in denen Ihr ebenso gut beten könntet, wenn es wirklich Eure Absicht wäre, meine Gesellschaft zu meiden.«
Johanna schluckte, sah ihn an und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Das könnte nie meine Absicht sein. Ich hoffe, Ihr versteht mich …«
Dann drehte sie sich um und lief davon. Sie raffte ihre Kleidung zusammen und wurde immer schneller. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass er ihr folgte, sie einholte, sie zwang, das zu tun, was sie eigentlich auch wollte. Doch ein anderer Teil ihrer Seele nahm einfach nur erschrocken Reißaus wie ein aufgescheuchtes Wild, kopflos und ohne jeden klaren Gedanken.
Als Johanna das Gasthaus erreichte, in dem die lübischen Ratsgesandten übernachteten, traf sie im Schankraum ihren Vater und Brun Warendorp, die bei einem Krug Bier zusammensaßen.
»Du bist lange fort
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