Die Kaufmannstochter von Lübeck
und deutete auf die Bahre. Der Anblick, der sich Frederik dort bot, war grauenvoll. Eine offenbar durch Ratten furchtbar entstellte Leiche lag dort. »Er ist plötzlich gestorben, noch bevor er verhört wurde«, sagte Georg. »Bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, ihn aus der Stadt zu bringen.« Er zuckte mit den breiten Schultern und spuckte geräuschvoll aus. »Ein Dieb, der keine christliche Beerdigung bekommt, weil er versucht hat, sich an den wertvollen Dingen zu vergreifen, die man im Dom so finden kann. Wir verscharren ihn außer Sichtweite der Stadt. Und du – legst dich jetzt neben ihn!«
»Was?«
»Ich weiß, er riecht jetzt noch schlimmer, als er schon zu Lebzeiten gestunken hat. Aber anders wirst du nicht unbemerkt aus der Stadt gelangen. Und an deiner Stelle würde ich nicht noch einmal nachfragen, sonst überlege ich es mir nämlich anders.«
»Und wie wird es dann weitergehen?«
»Frag nicht so viel. Gib mir stattdessen deinen Mantel. Den lege ich so hin, dass man denkt, du würdest noch im Stroh liegen, wenn man durch das Gitterfenster sieht. Damit gewinnst du vielleicht einen halben Tag für deine Flucht. Wenn du Glück hast, sogar mehr. Bei den Trotteln, die inzwischen vom Rat als Wächter angestellt werden, ist das gar nicht so unwahrscheinlich.« Er machte eine verächtliche Handbewegung. »Alles Vetternwirtschaft. Und jetzt mach schon.«
Georg riss Frederik den Mantel von den Schultern.
Dieser schluckte beim Anblick des Toten. Selbst auf Schlachtfeldern gab es selten einen so grausigen Anblick. Aber er hatte keine andere Wahl, also legte er sich zu dem Toten. Das stockige Leinentuch, das man danach über ihn deckte, roch beinahe genauso ekelhaft wie der Leichnam selbst.
»Auf den Karren mit ihm!«, befahl der Ehrlose Georg. »Und zwar schnell.«
Nebel wallten durch die Flussniederungen. Johanna war von ihrem Pferd gestiegen und hatte es zusammen mit einem zweiten Pferd an einen einsam dastehenden, ziemlich verwachsenen Baum gebunden, in den irgendwann einmal der Blitz hineingefahren sein musste. Das zweite Pferd war gesattelt und bepackt, mit ihm sollte sich Frederik, so schnell er konnte, davonmachen. Das Schwert, das Johanna für Frederik aufbewahrt hatte, war von ihr in eine Decke gewickelt und so auf den Sattel geschnallt worden. Schließlich sollte es nicht so auffallen.
Den Dolch hatte sie in den Satteltaschen untergebracht, zusammen mit ein paar Vorräten, die ihn über die erste Zeit bringen würden. Einer der Männer aus Gustav Bjarnessons Gefolge hatte Johanna begleitet: ein großgewachsener Mann mit rötlichblonden Haaren und einer Narbe auf der Stirn, die aussah, als würde sie von einem Schwertstreich stammen. Johanna wusste nur, dass er Olaf hieß. Olaf sprach kaum ein Wort. Ob er des Niederdeutschen kaum mächtig war oder ob es einfach seiner Art entsprach, hatte Johanna noch nicht herausgefunden. Aber er war gut bewaffnet, und sie fühlte sich in seiner Begleitung immerhin sicher.
Von dem Ort, an dem sie sich befanden, hatte Johanna bisher noch nichts gehört. Man nannte ihn den Heidenacker, weil man hier wohl vor langer Zeit eine große Anzahl verstockter Heiden, die ihren alten Göttern treu geblieben waren, umgebracht und verscharrt hatte. Einem ähnlichen Zweck diente dieses Gelände noch immer. Hingerichtete, deren Verbrechen als besonders abscheulich galten, wurden hier ebenso unter die Erde gebracht wie die vielen Pesttoten zu Zeiten der verheerenden Epidemie, die auch Köln in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder heimgesucht hatte. Ein Ort, der daher von den Bewohnern der Stadt nach Möglichkeit gemieden wurde, wie Bruder Emmerhart ihr berichtet hatte. Der Mönch war ja schon des Öfteren in Köln gewesen und kannte sich daher besser mit den örtlichen Gegebenheiten aus – und die exzellenten Beziehungen, über die er verfügte, würden Frederik vielleicht das Leben retten.
Plötzlich ergriff Olaf das Wort, was Johanna regelrecht zusammenzucken ließ, so überrascht war sie.
»Dahinten!«, sagte er nur und deutete in die Ferne.
Da tauchte ein Karren auf, der von zwei Pferden gezogen wurde. Zwei Männer saßen vorne auf dem Bock. Zwei folgten zu Fuß, und ein weiterer begleitete den Karren zu Pferd.
Der Mann auf dem Pferd war schon auf Grund seines vollkommen kahlen Kopfes eine auffällige Erscheinung. Davon abgesehen war seine Gestalt so groß und massig, dass das vergleichsweise schmächtige Pferd, das ihn tragen musste, einem schon fast leidtun
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