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Die keltische Schwester

Die keltische Schwester

Titel: Die keltische Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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gerissen hatte, waren zugedeckt, gepflastert mit Asphalt, klebrigem, zähem, schwarzem Asphaltund grauem, bröckelndem Beton. Aus ihm wuchsen Mauern empor, warfen hohe Gebäude verzerrte Schatten auf die leeren Straßen. In den Schluchten zwischen den hohen Häusern lastete brütender Dunst, der Horizont wurde schwefelig und gelb, ein Brodem aus übelriechenden Gasen nahm der Sonne das Licht, und die Scheiben der Fenster starrten trübe und blicklos in den Himmel. Ausgestorben war die Stadt, leer und fremd.
    Weiter und weiter zog es mich, stunden-, tage-, vielleicht jahrelang. Die Häuser begannen zusammenzufallen, rostige Stahlgerippe, Skelette einer unmenschlichen Zivilisation, verbogen, scharfkantig und abstoßend, ragten aus der toten Erde. Ich spürte, wie die Einsamkeit und die Trostlosigkeit meine Kräfte raubten, wie das Verlangen, einfach niederzusinken und aufzugeben, mich überwältigen wollte, wie die Last der Verzweiflung mich beschwerte und meinen Geist verdunkelte. Kein Leben würde je in diesem öden Land mehr gedeihen, keine Blume mehr blühen, kein Tier seine Höhle bauen. Ich sank tiefer und tiefer, bis ich den Boden erreichte. Doch anzuhalten war mir nicht erlaubt. Müde schleppte ich mich darum weiter, durch Sandwüsten, grenzenlos, wasserlos, durch geborstenes Gestein, Geröllhalden, staubige Senken, leere Flussbetten, eingestürzte Höhlen, ausgetrocknete Quellen.
    Ich kam an einen Abgrund, die namenlose Tiefe gähnte zu meinen Füßen; schroff und senkrecht fiel der Fels vor mir ab. Doch ich musste diese Schlucht überqueren, es gab keine andere Lösung, aber die Unfähigkeit, es zu tun, würgte mir in der Kehle. Die andere Seite verschwand in einem Nebel, klebrig und grau. Erschöpft sah ich hinüber, müde und ausgelaugt von dem langen Weg, den ich zurückgelegt hatte.
    Plötzlich hoben sich die Nebel, und über den Abgrund konnte ich das Land sehen. Blattlose Bäume, knorrig und verwachsen, bildeten einen dunklen Hain. Dahinter erhob sich ein nackter Fels, ragte mit seinen zerklüfteten Flanken abweisendin einen dunklen, sternenlosen Nachthimmel. Rauch stieg auf, wirbelte konturenlos um den Gipfel, formte sich allmählich, und dann standen da zwei Gestalten. Eine Frau, deren Gesicht ich nicht erkennen konnte, sah über die Bergspitze zu dem Mann hin, hob flehend die Hände. Er, über dessen Kopf sich die Sichel des jungen Mondes erhob, versuchte sie zu erreichen, doch ihre Hände trafen sich nicht.
    Das Bild verschwamm, und eine unendliche Traurigkeit überkam mich. Trauer über den Verlust des Lebens und einer unnennbaren Liebe, Trauer um die Erde, die vertrocknet und verbrannt, zugeschüttet und verbaut, verwundet und ausgebeutet war. Und mit meiner Trauer begannen die Tränen zu fließen. Rannen die ersten salzigen Tropfen über meine Wangen, benetzten den Staub und versickerten, als wären sie nie gefallen. Doch ich konnte nicht aufhören zu weinen, ein Strom von Tränen fiel wie Regen über das Land.
    Und das Wunder geschah. Ein junger Keim reckte sich aus dem feuchten Boden, entfaltete seine Blätter, wuchs heran und bildete Knospen. Mehr und mehr Triebe, Halme, Blätter, Blüten entfalteten sich, und durch die Wiese schlängelte sich ein glitzerndes Bächlein.
    Etwas Kaltes, Feuchtes wischte über mein Gesicht, und ich schlug die Augen auf.
    »Ältere Schwester, Lindis! Was machst du nur?«
    Ich blinzelte. Es war Zwielicht um mich herum, aber ich fand mich nicht zurecht, merkte nur, dass mich jemand festhielt, tröstend, mir die Stirn kühlte und mir ein Glas mit einem warmen Getränk an die Lippen hielt. Dann schlief ich wieder ein.
    Als ich das nächste Mal aufwachte, war gedämpftes Gemurmel an meinem Bett zu hören.
    Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme hatte mich verlassen.
    »Gehen wir nach nebenan, Herr Dr. Neumann.«
    Die Tür fiel zu. Ich drehte mich auf die andere Seite und versuchte auf die Uhr zu schauen. Es war gegen Mittag, doch ich war mir nicht ganz sicher, welcher Tag es war. Auf jeden Fall war es höchste Zeit aufzustehen. Ich versuchte mich also aufzusetzen, aber mir wurde so schwindelig, dass ich wieder in die Kissen sank.
    »Lindis, bleib liegen. Du bist ziemlich krank.«
    »Beni?«, krächzte ich und erinnerte mich an die Krähe. Ein Schaudern erfasste mich.
    »Sprich lieber nicht. Ich bring dir gleich etwas zu trinken, und dann mache ich dein Bett neu. Nur, damit du es weißt, sterben wirst du an dieser Grippe nicht, auch wenn ich zwischendurch das Gefühl

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