Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
Ruf, der Tag des Gerichts sei nicht mehr fern,
streute sich ein greiser Wandermönch Asche aufs Haupt. Wie auf Kommando sank
die Menge laut betend in die Knie, und ein allgemeines Wehklagen begann.
Ekstatische Schreie waren zu hören, leider aber auch solche, die nicht
religiöser Inbrunst entsprangen. Dies war nicht nur die Stunde der Pilger,
sondern auch die der Beutelschneider, Münzfälscher und Scharlatane. Vorsicht
war oberstes Gebot, und wer es nicht beherzigte, war sein Geld schnell los.
Berengar rieb sich verwundert die Augen. Noch nie hatte er eine derartige
Ansammlung von Menschen gesehen, und über die Frage, wer hier fromm war und wer
nicht, wollte er lieber nicht nachdenken.
Eine Sorte Mensch allerdings war hier sehr zahlreich
vertreten, weit zahlreicher als die Handwerker, Tagelöhner und Bauern, die sich
vor der Kirche drängten. Es waren die Pfaffen. Berengar rümpfte die Nase, denn
mit Ausnahme seines Freundes Hilpert von Maulbronn traute er ihnen nicht über
den Weg. Wie fast jedem der hier Anwesenden waren sie auch ihm regelrecht
verhasst, und als die Prunksänfte eines Domkapitulars seinen Pfad kreuzte,
wurde sein hitziges Naturell auf eine harte Probe gestellt.
»Aus dem Weg, Bursche!«, herrschte ihn ein
breitschultriger, mit Helm, Lederwams und Kettenhemd bekleideter Kriegsknecht
an. Um sich Respekt zu verschaffen, hielt er einen grob geschnitzten Knüppel in
der Hand. ›Ein Kerl, mit dem nicht zu spaßen ist!‹, fuhr es dem Vogt durch den
Sinn. Wenn er etwas vermeiden wollte, dann Zank und Hader. Eine Denkweise, die
bei ihm an sich recht selten war. Doch selbst wenn er es gewollt hätte, konnte
der Vogt nicht so ohne Weiteres ausweichen, und so blieb er inmitten der
zahlreichen Gaffer stehen.
»Worauf wartest du noch? Gib endlich Fersengeld!«,
brüllte ihn der Kriegsknecht an, und als Berengars Rechte instinktiv an den
Schwertknauf fuhr, musste er feststellen, dass sich seine Waffe immer noch in
der guten Stube seiner Schwester befand.
»Mach, dass du hier wegkommst, sonst …«, stieß der
Reisige wutschnaubend hervor, während ein Schwall weindurchtränkter Atemluft in
Berengars Gesicht wehte. Weiter kam er jedoch nicht. Bevor er seiner Wut freien
Lauf lassen konnte, war zwischen den brokatenen Vorhängen der Prunksänfte eine
Hand zu sehen. Sie war breit und schwammig, fast wie eine Klaue, und steckte in
einem Handschuh aus Samt. Ein weinroter Rubin, wertvoller als alles, was die
Gaffer ringsum besaßen, steckte am Ringfinger und funkelte die Menge drohend
an. Auf dem Platz vor dem Neumünster wurde es totenstill. Kurz darauf wurden
die Vorhänge der Sänfte beiseitegeschoben und ein hochrotes, von Wein und
Ausschweifungen aufgedunsenes Gesicht tauchte auf: »Was soll das, warum geht es
denn hier nicht weiter?!«
»Eustachius von Marmelstein!«, zischte ein
Gerbergeselle und ballte die Faust. »Na, der hat uns gerade noch gefehlt!«
Für den Bruchteil eines Moments blieb der Kriegsknecht
unschlüssig stehen und sah den Gerbergesellen mit grimmiger Miene an. Der
Knüppel in seiner Hand begann unmerklich zu vibrieren, doch bevor er zuschlagen
konnte, war von irgendwoher in der Menge der Ruf zu hören: »Halts Maul,
Dompfaff, machst schließlich genauso krumme Knie beim Scheißen wie wir!«
»Das ist ja unerhört!«, keifte der Domherr und rief
seiner bewaffneten Eskorte zu: »Ergreift den Kerl, aber rapido!«
Eustachius von Marmelstein hatte einen Fehler gemacht,
und zwar einen mit schwerwiegenden Konsequenzen. Die heitere Stimmung, die dem
unerwarteten Zuruf folgte, schlug plötzlich um. Wie auf Kommando geriet die
Menge in Bewegung und drängte immer näher an die Prunksänfte heran. Die Träger,
ein halbes Dutzend livrierter Pagen, wurden kalkweiß vor Angst, und der
Domherr, bis dato der Hochmut in Person, zog sich ins Innere der Sänfte zurück
und schloss die Vorhänge.
Von allen Umstehenden reagierte Berengar am
schnellsten. Noch während der Blick des Kriegsknechtes unschlüssig zwischen der
Sänfte und seinem vermeintlichen Opfer hin und her irrte, hatte er seinen
Entschluss gefasst. Obwohl er Kleriker vom Schlage eines von Marmelstein
abgrundtief hasste, wurde ihm rasch klar, dass sich aus dem Kräftemessen mit
seinem Kontrahenten sehr leicht ein Blutbad entwickeln konnte. Und das durfte
auf keinen Fall passieren. Die Menge ringsum war zwar zu allem entschlossen,
aber wie so häufig würden die besseren Waffen den Sieg davontragen. Und die
befanden sich nun einmal im
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