Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
vor
Sonnenaufgang
Normalerweise war Bruder Hilarius, Prior des Franziskanerklosters
zu Würzburg, ein heiterer, stets zu Scherzen aufgelegter Mann. Mit ein Grund,
weshalb sich der schlaksige Endzwanziger mit den winzigen Lachfalten und den
Kulleraugen großer Beliebtheit erfreute. Er wollte immer nur das Positive
sehen. Selbst dann, wenn ihm das Pech an den Fersen klebte.
Damit freilich war es am heutigen Tage nicht weit her.
Bruder Hilarius machte ein entsetztes Gesicht, und die heitere Gelassenheit,
sein Markenzeichen, war tiefer Bestürzung gewichen.
»Und wann genau hat man ihn gefunden, Bruder Prior?«,
fragte Bruder Hilpert und wandte sich der Bahre mit dem Leichnam zu. Wie immer,
wenn er einen Mord aufzuklären hatte, versuchte er, mit seinen Gefühlen hinterm
Berg zu halten. Kein leichtes Unterfangen, vor allem nicht am heutigen Tag.
»Während der Vigilien.« Bruder Hilarius stellte seine
Laterne ab, seufzte und fuhr mit den Handballen über die geschlossenen Lider.
»Der Mann, der ihn gefunden hat, wartet draußen vor der Tür.«
Bruder Hilpert nickte. »Habt Dank, Bruder Hilarius. Insbesondere
dafür, dass Ihr Euch dieser armen Seele angenommen habt.«
»Möge er in Frieden ruhen.«
»Amen.« Bruder Hilpert bekreuzigte sich und stieß
einen lauten Seufzer aus. Seine Augenlider waren schwer wie Blei, und als er
sich anschickte, mit der Untersuchung des Leichnams zu beginnen, zitterten ihm
die Knie.
»Ist Euch nicht gut, Bruder?«
Hilpert tat so, als habe er die Frage des Priors nicht
gehört, packte das Leinentuch, unter dem sich die Umrisse von Agilulfs Körper
abzeichneten, und schlug es mit einer raschen Handbewegung zurück.
Gerade einmal 50, sah Agilulfs Leichnam wie der eines
Greises aus. Seine Haut, vergilbt wie uraltes Pergament, war von zahlreichen
Falten durchzogen, der Hang zur Fettleibigkeit nicht zu übersehen. Bruder
Hilpert holte tief Luft. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei der
Reliquienhändler eines natürlichen Todes gestorben. Wäre da nicht der winzige,
mit bloßem Auge kaum zu erkennende Punkt direkt über dem Herzen gewesen.
Als könne er Gedanken lesen, fasste sich der Prior des
Franziskanerklosters ein Herz, nahm die Laterne zur Hand und richtete sie auf
den fraglichen Punkt. Bruder Hilpert sah kurz auf, wandte sich dann aber wieder
dem Leichnam zu. »Nehmt es mir nicht übel, Bruder!«, sprach er mit gedämpfter
Stimme, bemüht, so rücksichtsvoll wie möglich zu klingen. »Aber Ihr hättet den
Leichnam nicht so gründlich waschen dürfen.«
»Aber wieso denn, Bruder, das macht man doch immer …«
»Natürlich macht man das immer so!«, vollendete Bruder
Hilpert und klopfte dem Prior beruhigend auf die Schulter. »Nichts läge mir
ferner, als Euch zu tadeln – aber schließlich haben wir es hier mit einem
Mordfall zu tun!«
Bruder Hilarius machte ein betretenes Gesicht, und
seine Kulleraugen schauten recht ratlos drein. Glücklicherweise dauerte dieser
Zustand nicht lange, und als sich Bruder Hilpert über den Brustkorb des Toten
beugte, war er schon wieder der Alte.
»Könntet Ihr einmal kurz mit anpacken, Bruder?« Der
Prior nickte, und kurz darauf lag der Leichnam des Reliquienhändlers bäuchlings
auf dem Tisch.
Bruder Hilpert brauchte nicht lange zu suchen, und als
der Schein der Laterne auf die höchstens einen Zoll im Quadrat große Stichwunde
unterhalb der Schulter fiel, wechselten die beiden Mönche einen vielsagenden
Blick. Wer tut so was?, schien der Blick des Franziskanerpriors zu sagen. Eine
Frage, die zu beantworten Bruder Hilpert jedoch wohlweislich vermied. »Sieht
mir nach einem Stilett aus!«, murmelte er mit gerunzelter Stirn. »Und nach
einem Stich mitten ins Herz.«
»Mit anderen Worten: heimtückischer Mord.« Die Hand,
in der Bruder Hilarius seine Laterne hielt, begann leicht zu vibrieren, und der
Lichtkegel irrte ziellos an der gegenüberliegenden Wand hin und her.
Bruder Hilpert nickte und ließ den Blick über den
nackten Körper schweifen. Abgesehen von der Wunde, wies er keinerlei Blessuren
auf. Von einem Kampf oder heftiger Gegenwehr also keine Spur. Bruder Hilpert
richtete sich auf und fuhr sich mit der Handfläche an der rechten Schläfe
entlang. Somit war der Fall also halbwegs klar. Zumindest, was die Umstände
betraf, unter denen der Reliquienhändler ums Leben gekommen war.
»Kann es sein, dass er nicht dort ermordet worden ist,
wo ihn dieser Leinenweber gefunden hat?«
»Es kann nicht nur sein, Bruder!«,
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