Die Kiliansverschwörung: Historischer Roman (German Edition)
der
Sterbenden aufmerksam zu: »Aber dann«, fuhr Schwester Serafina mit matter
Stimme fort, »Gott allein weiß, warum, gab ich ihrem inständigen Flehen nach,
auf die Gefahr hin, dass man mich beim Jüngsten Gericht für mein Tun zur
Verantwortung ziehen würde.«
»Ihrem Flehen, sagst du?«
»Ja, mein Kind, du hast richtig gehört. Und es
schmerzt mich, dass ich erst jetzt, in der Stunde meines Todes, den Mut
aufgebracht habe, dir die Wahrheit zu sagen.«
»Die Wahrheit?«
»Es hat keinen Sinn, dass du dich gegen sie sträubst.
Gewiss, deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben und dein Vater zwei Jahre
darauf. Insofern bist du dazu verdammt, mir zu glauben. Aber so wahr ich
Serafina heiße und mein Leben der Muttergottes geweiht war, ich spreche die
Wahrheit, mein Kind. Dies umso mehr, als dass du stets mein Ein und Alles
gewesen bist.«
Kaum mehr imstande, ihre Tränen zu unterdrücken,
fragte Schwester Irmingardis in ahnungsvollem Ton: »Und was ist die Wahrheit,
Mutter?«
»Die Wahrheit ist, mein Kind, dass du noch einen
älteren Bruder hast. Einen Halbbruder, um es genau zu sagen.«
»Soll das heißen, dass …«
Schwester Serafina nickte, und während sie dies tat,
sah ihr Gesicht wie ein Wachsabguss aus. »Das soll heißen, dass deine Mutter
das Sakrament der Ehe gebrochen und deinem Herrn Vater untreu geworden ist.
Was, wie sie mir vier Jahre später kurz vor deiner Geburt im Angesicht der
Muttergottes schwor, nur dieses eine Mal der Fall gewesen ist. Was die Schuld,
die sie auf sich geladen, natürlich nicht vergessen macht.«
»Und … und was ist aus meinem Bruder geworden?«
»Ich nahm mich seiner an. So gut es ging. Tat alles in
meiner Macht Stehende für ihn. Später dann, als Heranwachsender, konnte er
natürlich nicht mehr hier im Kloster bleiben. Ich gab ihn in die Obhut der
Dominikaner, von wo aus er dann auf die Domschule gegangen ist. Das war vor 14
Jahren, im Jahre zwei, kurz bevor deine Tante starb und du, seine Schwester,
der Obhut unseres Ordens übergeben worden bist.«
»Und wer ist sein Vater?«
»Schwörst du mir, bei Sankt Afra und der Muttergottes
und allem, was dir heilig ist, dass du von dem, was ich dir anvertraue, nie
auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten lassen wirst?«
»Ich schwöre es, Mutter.«
»Sein Vater – Gott der Herr vergebe ihm sein
sündhaftes Tun – sein Vater … es ist …« Ein schauerliches Röcheln entrang sich
Schwester Serafinas Brust, und ihr Atem sank zu einem kaum mehr wahrnehmbaren
Lufthauch herab. »Sein Vater – die Muttergottes möge sich seiner erbarmen – ist
der Bischof.«
»Was sagst du da?!« Schwester Irmingardis fuhr in die
Höhe, ungeachtet der Hand, deren Griff zuerst ins Leere ging und dann matt und
kraftlos auf das Sterbelager sank.
Schwester Serafina schlug die Augen auf, stützte sich
auf die Ellbogen und stemmte sich mit einer geradezu übermenschlichen
Anstrengung von ihrem Lager empor. »So glaube mir doch, mein Kind!«, beteuerte
sie. »Gott der Herr sei mein Zeuge: Ich … ich … ich würde dich niemals …« Ein
letzter, von quälender Sorge überschatteter Blick, ein Aufbäumen – dann gaben
die Ellbogen der 93-Jährigen nach, und Schwester Serafina sank leise ächzend
auf ihre Bettstatt zurück. Die Kerze auf ihrem Nachttisch, nicht viel mehr als
ein glimmender Stummel, leuchtete kurz auf und erlosch dann ganz. Pechschwarze
Dunkelheit erfüllte den Raum.
Irmingardis, geradezu ein Muster an Selbstbeherrschung,
achtete jedoch nicht darauf, unterdrückte den Schwall ihrer Tränen, die ihre
Stimme zu ersticken drohten, und fragte: »Wie heißt er, Mutter? Um meiner und
der Liebe Christi willen: Vertraut mir an, welchen Namen mein Halbbruder
trägt!«
Die ausgemergelten Züge, auf die der Blick von
Schwester Irmingardis fiel, wirkten wie erstarrt. Einzig die Lippen, schmal wie
ein Strich und bläulich verfärbt, verrieten, dass noch ein Rest an Leben in
Schwester Serafina steckte: »Er heißt … er heißt … es ist …«, hauchte sie. Dann
fiel ihr Kopf zur Seite und Schwester Serafina vom Orden der Benediktinerinnen
war tot.
Eine Weile war Schwester Irmingardis wie erstarrt. Sie
stand einfach nur da, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Und so kam es,
dass sie den immer breiteren Lichtstreifen auf den Steinfliesen der Sterbezelle
und das Knarren der Tür hinter sich nicht bemerkte.
Erst als sie die eiskalte Hand auf ihrer Schulter
spürte, fand Schwester Irmingardis wieder in die Wirklichkeit
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