Die Kinder aus Bullerbü
Zeitung
vorlesen, ist es immer Inga, die auf seinem Schoß sitzt, und er
nennt sie immer »meine Kleine«. Ich verstehe nicht, wie er
Inga von uns anderen unterscheiden kann, wo er doch fast
blind ist. Aber er kann es.
Dabei ist Inga nicht behaart wie Esau in der biblischen
Geschichte. Für Esaus Vater war es ja keine Kunst, seine
Kinder zu unterscheiden, weil das eine behaart und das andere
glatt war. Aber dass Großvater es kann, ist doch erstaunlich –
da Inga nicht ein bisschen behaart ist.
Auf jeden Fall ist Großvater zu uns allen sehr, sehr gut; es
macht eigentlich nicht viel aus, dass er Inga »meine Kleine«
nennt.
Aber außerdem haben Britta und Inga auch noch einen
eigenen See. Das ist die andere Sache, um die ich sie beneide.
Man läuft nur über ihre Kuhweide, und schon ist man am
Nordhof-See, der feinen Sandstrand hat. Dort baden wir im
Sommer. Einmal, als wir uns böse waren, sagte Inga, ich
dürfe nicht mehr in ihrem See
baden. Aber da sagte Ingas Mama, ich dürfe dort baden, so viel
ich wolle, denn das sei ein altes Recht. Inga kann mir also
niemals verbieten, im Nordhof-See zu baden, und wenn wir
noch so böse miteinander sind. Übrigens vertragen wir uns
meistens.
Auf der anderen Seite des Sees ist kein Sandstrand. Dort sind
hohe Berge. Jedenfalls finde ich, dass sie hoch sind. Wenn
Lasse auch sagt, ich sollte erst einmal das Felsengebirge in
Nordamerika sehen. Wir tun so, als sei es das Felsengebirge,
das auf der anderen Seite des Sees liegt. Und manchmal rudern
wir mit dem Kahn vom Nordhof hinüber.
Lasse sagt, es muss ein Riese gewesen sein, der all die großen
Felsblöcke und Steinbrocken im Felsengebirge
umhergeschleudert hat. Vor langer Zeit, als es noch keine
Menschen gab. Und kein Bullerbü. Ich bin froh, dass ich
damals nicht lebte. Als es kein Bullerbü gab! Oh, was für ein
Glück, dass jemand den Einfall hatte, Bullerbü zu bauen. Wo
hätten wir sonst wohnen sollen? Lasse sagt, dann hätten wir
in der Höhle im Felsengebirge wohnen können. Es gibt dort
eine richtig schöne Höhle unter einigen riesengroßen
Felsblöcken.
Wir haben eine Kiefer, an der wir immer unseren Kahn
anbinden, wenn wir auf die andere Seite des Sees kommen.
Dann klettern wir sofort in die Berge hinauf. Aber nicht
irgendwo. Wir haben besondere Stellen, wo wir uns festhalten
können. Und das ist auch nötig, weil es sehr schwer ist, auf
Berge zu klettern.
Wir haben eine Felsspalte, die wir Nasenstoßer nennen. Sie ist
so schmal, dass man sich fast immer die Nase stößt, wenn
man hindurch will. Aber man muss dort durch, denn es gibt
keinen anderen Weg. Dann gibt es einen Felsen, der
hervorspringt, und man muss, um daran vorbeizukommen, auf
einer schmalen Kante entlangkriechen. Wir nennen diese
Klippe Rotzbruch, weil Lasse erzählt hat, dass Bosse dort
eines Tages hinuntergefallen sei und sich den Rotz
abgebrochen habe. Bosse sagt, ja, er sei zwar abgestürzt, aber er habe sich dabei beinahe den Arm gebrochen, und Lasse müsse
Prügel kriegen, wenn er behaupte, dass es Rotz gewesen sei.
Der Felsen heißt aber trotzdem Rotzbruch. Die
allergefährlichste Stelle heißt »Hand des toten Mannes«.
Wenn man dort hinunterfällt, müssen sie einen mit der
Schubkarre nach Hause fahren, sagt Lasse. Hat man jedoch all
die gefährlichen Stellen geschafft, so ist man bald oben auf
dem höchsten Berg. Und wenn man dann ein kleines Stück in
den Wald hineingeht, kommt man an die Höhle. Wir nennen
die Höhle Donnerloch.
An einem Sonntag im Frühling, kurz vor den Ferien, machten
wir einen Ausflug in unser Felsengebirge. Wir hatten etwas
zu essen mit und sagten zu Hause, dass wir sicher den ganzen
Tag wegbleiben würden.
Lasse band den Kahn an unserer Kiefer fest. Und dann fingen
wir an zu klettern. Wir sprachen darüber, was wohl lustiger
sei: Auf Berge zu klettern oder auf Bäume. Und wir fanden
alle, dass es sicher ein bisschen lustiger sei, auf Berge zu
klettern. Wir fanden auch eine neue Stelle, die wir
Ziehbauchein nannten. Weil man den Bauch einziehen musste,
wenn man dort vorbei wollte. Sicher, ganz neu war die Stelle
nicht. Wir waren schon oft an Ziehbauchein vorbeigeklettert.
Aber wir hatten nicht gewusst, dass die Stelle Ziehbauchein
hieß.
Als wir über die Hand des toten Mannes kletterten, fror ich
ein wenig, denn es war so spannend. Mama hätte die Hand
des toten Mannes nicht sehen dürfen, sie hätte uns dann
sicher nie zum Felsengebirge
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