Die Kinder der Elefantenhüter
zu nehmen.
»Denkt dran«, sagt sie, »egal was geschieht, wir passen auf euch auf.«
Bodil gehört unverkennbar der großen Gruppe von Erwachsenen an, die darauf vertrauen, dass Kinder diskrete Hinweise verstehen. Leider muss ich dies Vertrauen jetzt enttäuschen.
»Dieses ›egal was‹«, sage ich, »macht Tilte und Basker und mich nicht ganz so glücklich, heißt das: auch wenn eure Eltern nicht mehr zurückkommen?«
Bodil durchzuckt es. Aber sie hat zur Landung den Sicherheitsgurt angelegt, so dass sie nicht wegrobben oder auf den Flügel klettern kann, ihr bleibt nichts anderes übrig, als uns in die Augen zu sehen.
»Das ist unmöglich«, sagt sie. »Vollkommen unwahrscheinlich.«
Und dann kommt endlich und zum ersten Mal, mit Überwindung, eine Bemerkung direkt aus Bodils Nilpferdherzen.
»Aber wir machen uns Sorgen«, sagt sie.
Das Therapiezentrum Store Bjerg liegt oberhalb von Finø-Stadt, am Hang des Hügels Store Bjerg, der höchsten Erhebung der Insel, hundertundein Meter über dem Meeresspiegel.
Touristen, die mit dem Gedanken spielen, über den Namen Großer Berg zu lachen, überdies wenn Tilte, Basker oder meine Wenigkeit in der Nähe sind, würde ich, ehe sie loswiehern, dringend empfehlen, den Mundschutz einzusetzen und die fälligen Beiträge ihrer Lebensversicherung zu begleichen. Denn wir Finøer sind empfindlich und schnell zu kränken, wenn diesem Ort der nötige Respekt verwehrt wird.
Aber es lacht ohnehin nur derjenige, der die Aussicht nicht kennt, die sich einem dort bietet. Niemand, der erst einmal oben steht, ist weniger als tief bewegt. Ich habe Typen in Biker-Kutte mit martialischem Rückenaufnäher gesehen, mit rasiertem Schädel und tätowierten Flammen im Nacken und einem Jagdgewehr mit abgesägtem Lauf in der Satteltasche, die sind bei der Aussicht in Tränen ausgebrochen.
Was die Menschen bewegt, ist das Großartige, und das Großartige ist immer schwer zu erklären. Aber vom Gipfel des Großen Bergs blickt man über ganz Finø, von der gleichnamigen Stadt im Süden die ganzen zwölf Kilometer bis zum Leuchtturm an der Nordspitze und über das Meer der Möglichkeiten, es ist, als schwebte Finø wie ein grünerPlanet in einem dunkelblauen Himmelsraum aus Meer – um nun auch mal einen poetischen Vorschlag für das Volkshochschulgesangbuch zu unterbreiten.
Diese Aussicht haben Tilte und ich gerade vor uns, wir sitzen auf der Terrasse des Therapiezentrums Store Bjerg .
Tilte steht hinter mir und schlingt die Arme um mich.
Man sollte zurückhaltend sein, wenn andere Menschen einen berühren wollen. Für meine Mutter zum Beispiel kommt das gar nicht mehr in Frage, ich bin vierzehn, in anderthalb Jahren komme ich auf die weiterführende Schule und in zweieinhalb ziehe ich von zu Hause aus.
Außerdem herrscht eine gewisse Verwirrung im mütterlichen Innern, wenn sie mich umarmen möchte, weil sie nicht verstehen kann, dass man doch, wie sie sagt, gerade eben noch ihr Baby war, und einen Moment später ist man plötzlich vierzehn, wurde schon von einer Frau verlassen, ist Torjäger der ersten Mannschaft und steht unter dem Verdacht, Haschisch geraucht zu haben, allerdings fehlen die Beweise.
Weshalb Mutter nicht weiß, ob sie ein Recht dazu hat, oder ob sie einen Antrag einschicken oder die Sache lieber gleich vergessen soll, so dass die Liebkosung ins Wasser fällt, es sei denn, ich erbarme mich ihrer und schließe sie in die Arme, als wäre sie das Kind und ich der Erwachsene.
Mit Tilte ist das etwas anderes, sie weiß instinktiv, wozu sie ein Recht hat, und das sind keine Lappalien. Jetzt schlingt sie also die Arme um mich.
»Petrus«, sagt sie.
Wenn Tilte jemandem einen bestimmten Namen zuweist, hat es eine Bedeutung. Als sich Vater und Mutter einmal gestritten hatten und Besuch kam, empfing Tilte die Gäste vor der Tür, begleitete sie ins Haus und stellteihnen unsere Eltern mit den Worten vor: »Das ist mein Vater, und das die erste Frau meines Vaters.«
Vater hat nur einmal geheiratet, und zwar Mutter, so dass die Gäste und unsere Eltern merklich zusammenzuckten, und nachdem der Besuch gegangen war, fragten die Eltern Tilte, was sie damit gemeint habe. Man wisse ja nie, antwortete Tilte, wie lange so eine Ehe halte, vor allem jetzt nicht, wo sie in die gewalttätige Phase übergegangen sei.
Es hat dann sehr lange gedauert, bis Vater und Mutter sich wieder gezankt haben.
Wenn Tilte mich »Petrus« nennt, muss ich die Ohren auf Empfang stellen, dann will sie
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