Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
ein Phänomen.«
»Da hast du Recht«, sagte Philippa, die nicht weniger verblüfft war als ihr Bruder, plötzlich ihrem identischen Zwilling gegenüberzustehen. Sie trat hinter Philippa-2 und betrachtete sich; ein Anblick, der sich ihr zum ersten Mal bot. »Sehe ich wirklich so aus?«
»John ist nur dein biologischer Zwilling«, erklärte ihr Afriel. »Aber das hier ist dein identischer Zwilling. Sie wird genauso denken, sprechen und sich verhalten wie du. Niemand, außer dir selbst, kann euch auseinanderhalten. Deine Mutter nicht und selbst John nicht.«
»Sie sagt aber nicht viel«, stellte John fest. »Wenn sie wirklich wie Philippa wäre, hätte sie euch schon längst unterbrochen und irgendwas Merkwürdiges wissen wollen.«
»Danke, John«, sagte Philippa. »Aber er hat Recht, Afriel. Sie sagt nicht viel.«
»Sie werden erst anfangen, sich wie ihr zu verhalten, wenn ihr sie nach Hause schickt, um euren Platz einzunehmen«, erklärteAfriel. »Jeder der beiden ist eine exakte Erweiterung eures Ichs, müsst ihr wissen. Das ist nicht mehr als schlichte Quantenmechanik. Anders, als Einstein dachte, kann ein und dieselbe Sache durchaus an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig existieren. Man nennt das eine Überlagerung. Es gibt dafür keine logische Erklärung. Nichts, was ein Wissenschaftler erläutern könnte. Jedenfalls nicht in den nächsten hundert Jahren. Und genau deshalb ist es eben ein Phänomen.«
»Also, sobald wir die beiden nach Hause schicken«, sagte Philippa, »werden sie anfangen, sich wie wir zu verhalten?«
»Abgesehen von zwei wichtigen Aspekten, ja«, sagte Afriel. »Erstens haben sie keine Seele. Das ist etwas, was selbst
ich
nicht bewirken kann. Also lasst sie auf keinen Fall in die Nähe eurer Seelenspiegel, sonst kommt eure Mutter dahinter und das Spiel ist aus. Der zweite Punkt ist, dass die beiden euren Platz nicht ewig einnehmen können. Das hat etwas mit subatomarem Zerfall zu tun und würde zu lange dauern, um es euch zu erklären. Merkt euch einfach: Die Lebensdauer eures Woanders beträgt ein Äon, das ist eine fest definierte Zeiteinheit im himmlischen Universum und nicht die unendliche Zeitspanne, von der hier unten manchmal die Rede ist.«
»Und wie lange ist ein Äon?«, erkundigte sich John. »Auf irdische Verhältnisse übertragen.«
»Genau eine Million Sekunden. Aber vielleicht lässt sich das in einer Dezimalzahl etwas leichter erfassen: Es sind 11,57407407407407407407407407407 Tage.« Afriel kicherte. »Versteht ihr jetzt, warum es leichter ist, einfach ein Äon zu sagen?«
»Das ist nicht halb so lang, wie ich angenommen hatte«,stellte Philippa fest. »Ein Äon, meine ich. Ich dachte, es wäre länger. Tausend Jahre oder so.«
»Zeit ist immer relativ«, sagte Afriel. »Und ein Äon hier unten ist etwas völlig anderes als ein Äon dort oben. Wir nennen das ein Zeitparadox. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Trotzdem läuft es darauf hinaus, dass, unabhängig davon, wo es stattfindet, ein Äon genau den Zeitraum umfasst, den ein Gedanke braucht, um Gott durch den Kopf zu gehen; für ihn also nicht der Rede wert, für euch allerdings eine ganz schöne Spanne Zeit. Das ist wieder so ein Paradox.«
John fuhr John-2 neckisch durch das Haar. »Und was passiert nach einem Äon mit ihm?«, fragte er.
»Er verschwindet. Beide werden verschwinden. 999 999 Sekunden lang sind sie da und im nächsten Augenblick …« Afriel schnippte mit den Fingern, »schwups, sind sie weg. Wie Cinderellas Pferd und Kutsche. Apropos Zeit, findet ihr nicht, dass ihr euch langsam auf den Weg machen solltet? Wenn ihr euch beeilt, erwischt ihr in der Penn Station noch den letzten Zug, der den Hudson River hinauffährt.« Er zuckte mit den Schultern. »Verlasst euch einfach auf mich, ja?«
Philippa schüttelte den Kopf. »Wir müssen vorher noch mal nach Hause«, sagte sie. »Wir brauchen Geld für die Zugfahrkarten.«
Afriel schüttelte den Kopf. »Nein, braucht ihr nicht. Ihr habt Geld. Und ihr habt Fahrkarten.«
John durchsuchte seine Hosentaschen und stellte fest, dass Afriel Recht hatte: Da war wirklich eine Fahrkarte; und in seinem Geldbeutel befand sich jetzt mit Sicherheit mehr Geld als vorher. »Mann, ist das zu fassen?«, sagte er. »Er hat Recht.«
»Am Newburgh-Bay-Bootsclub liegt außerdem ein Kanu für euch bereit. Ihr seht also, es gibt wirklich keinen Grund, noch länger zu zögern.«
»Vielen Dank, Afriel«, sagte Philippa, vergaß für einen Moment,
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