Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
Beispiel. Nicht dass er das Buch gelesen hätte; aber er hatte den Film gesehen. Er war ziemlich gut. Philippa, die mehr Stadtkind war als ihr naturverbundener Bruder und auch mehr gelesen hatte, hockte unruhig vorn im Kanu und dachte an Gnome, Ichabod Crane und den furchtbaren kopflosen Reiter aus »Sleepy Hollow« .
»Das ist so ziemlich das Unheimlichste, was ich je gemacht habe«, sagte sie. In den überhängenden Zweigen eines Baumes bewegte sich etwas Großes und sie erwartete fast, dass Rip van Winkle in ihr Boot sprang.
»Bleib cool«, sagte John. »Bleib cool?«, wiederholte Philippa und spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. »Mir ist auch so schon kalt genug.«
John paddelte schneller. Sie hatte Recht. Es war kalt und er war froh über die körperliche Anstrengung, weil sie ihn warm halten würde.
Schließlich, nach mehr als einer Stunde Paddelei, fiel der Strahl der Taschenlampe auf einen dicht bewachsenen Hügel, der direkt vor ihnen fast dreihundert Meter hoch aus demWasser ragte. John ließ das Kanu durch eine Art befestigtes Tor gleiten und lenkte es dann ans Ufer. Im flachen Wasser sprangen sie aus dem Boot und zogen es vorsichtig an Land zwischen ein paar Büsche. Eine Eule rief wie zur Begrüßung, und nach und nach erkannten sie hoch über sich in der Finsternis die Umrisse von etwas, das wie ein echtes schottisches Schloss aussah. Im Fenster des höchsten Eckturms flackerte ein schwaches Licht.
John schnappte sich die zweite Taschenlampe und führte sie durch die Büsche einen steilen Pfad hinauf. Philippa folgte ihm. Zumindest tat sie es, bis sie zu einer Zugbrücke kamen. Dort blieb sie stehen und stöhnte gequält auf. »Ich gehe keinen Schritt weiter ohne eine Knolle Knoblauch und ein silbernes Kruzifix«, zischte sie ihrem Bruder von hinten zu. »Von einem Hammer und ein paar scharfen Holzpflöcken mal ganz abgesehen. Der Bootsverleiher hatte Recht. ›Spukschloss‹ steht hier förmlich angeschrieben. In ein Meter großen Neonbuchstaben. Was hat ein gruseliges schottisches Schloss mitten im Hudson River verloren? Da stimmt doch was nicht.«
»Wo sollen wir denn sonst suchen?«, fragte ihr Bruder leicht gereizt. »Wenn Dybbuk irgendwo auf dieser Insel steckt, ist es ziemlich naheliegend, dass er hier ist. Schließlich gibt es hier nichts anderes als das Schloss.«
»Und wenn er nicht hier ist? Was dann? Ich will niemandem begegnen, der sich freiwillig an einem solchen Ort aufhält. Ich habe schon Friedhöfe gesehen, die einladender waren als Bannermann’s Island.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte John, der nicht weniger Angst hatte als seine Schwester, sie aber besser verstecken konnte.»Ich sag dir was: Du bleibst hier und ich sehe nach, ob Dybbuk hier ist, und danach fahren wir wieder nach Hause. Okay?«
»Ich soll hier allein bleiben?« Philippa leuchtete mit der Taschenlampe die Schlossmauer hinauf. »Nie im Leben. Ich komme mit.«
»Gut«, sagte John, der nicht gerade begeistert war über die Aussicht, sich allein ins Schloss zu wagen.
Sie überquerten die Zugbrücke und passierten ein Fallgitter und ein Wappen. Vor einem Holztor, das so groß war wie der Eingang eines U-Bahn -Tunnels, hob John die Hand, um anzuklopfen, schien es sich dann aber anders zu überlegen.
»Was ist los?«, fragte Philippa.
»Es ist offen. Das ist los«, erwiderte John und drückte gegen die Tür. Sie öffnete sich mit einem Quietschen, so laut wie eine Maschinengewehrsalve.
Sie betraten eine riesige Halle, in der eine Ritterrüstung stand, die eine große Axt hielt. Dahinter befand sich eine alte Kirchenorgel, die mit zermürbender Ausdauer einen hohen Ton von sich gab. John schluckte. »Ist jemand hier?«, rief er, an die Orgelbank gewandt.
Philippa ging auf die Orgel zu und begriff sofort, was vor sich ging. »Es ist nur der Wind in einer der Pfeifen«, sagte sie. »Mehr nicht.« Sie drehte sich um und stellte fest, dass John nicht mehr hinter ihr war. Er stand auf der Schwelle zu einem großen Wohnzimmer und machte ein derart entsetztes Gesicht, dass Philippa fast das Herz stehenblieb.
»Schau dir das an«, flüsterte er.
Eigentlich wollte sie nicht, aber die Neugier trieb sie vorwärts, bis sie es auch sah. Auf einer Art Bettcouch, vor einemgroßen, leeren Kamin, lag eine Gestalt, die wie ein uralter Mann aussah. Der Mann trug einen Frack, gestreifte Hosen, eine Weste, Gamaschen sowie Hemd und Schlips und sah aus, als wäre er eingeschlafen – oder tot. Was die Zwillinge
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