Die Kinder des Dschinn. Das Rätsel der neunten Kobra
ging John zur Tür und starrte auf den Hof hinaus. Dieser war von der hohen Innenmauer der Festung umgeben und lag verlassen da, bis auf einige Vögel, die sich im Schatten des alten Brunnenpavillons niedergelassen hatten.
Plötzlich machte John im Türrahmen kehrt, kam ins Zimmer zurück und schlug vor Dybbuk so fest mit der flachen Hand auf den Tisch, dass alle zusammenzuckten. »Ich hab’s!«, sagte er. »Es ist wieder ein Wortspiel. Mit ›Born der Freude‹ hat der Colonel keinen freudigen Anlass gemeint. Er hat das Wort ›Born‹ als Synonym für Brunnen benutzt.«
Dybbuk, der nicht genau wusste, was ein Synonym war, starrte ihn einen Moment lang verständnislos an.
»Versteht ihr denn nicht?«, fragte John und zeigte eindringlich zur Tür hinaus. »Mit ›Born‹ hat der Colonel einen Brunnen gemeint, wie er draußen vor der Tür steht. Ein Brunnen, aus dem man Wasser holt und in den man vielleicht auch runtersteigen kann, um nach einem königlichen Schatz zu suchen.«
Alle standen auf und gingen zur Tür, um sich den alten Brunnen anzusehen.
»Natürlich«, sagte Philippa. »Wo lässt sich etwas besser verstecken als in einem alten Brunnen?«
»Jedenfalls erspart es einem, ein Loch auszuheben und das Ganze zu vergraben«, meinte Groanin.
»Es muss der Brunnen sein«, sagte John.
»Oder hat jemand noch einen Brunnen in der Festung bemerkt?«, fragte Dybbuk.
Niemand meldete sich. Sie gingen hinaus, um sich die Sache anzusehen.
Der Brunnen war so alt wie die Festung selbst und wurde von einem auf mehreren Steinsäulen ruhenden Pavillon mit gewölbtem Dach überschattet. Ein großer Kübel mit einem dicken Seil befand sich neben dem Brunnen. Die Freunde spähten über den breiten Rand in die kühle, dunkle Tiefe. Leichte Zugluft wehte den Brunnenschacht herauf, als würde die Erde selbst durch dieses Loch atmen. Was nicht gerade dazu beitrug, ihre Angst vor dem Hinabsteigen zu mildern.
»Jemand muss da runter«, sprach Dybbuk das Offensichtliche aus. »Um nach dem Kobrakönig zu suchen.«
»Ich jedenfalls nicht«, sagte Groanin. »Der Gedanke, einen alten Brunnen runterzuklettern, will mir einfach nicht behagen. Schon gar nicht nachts.«
»Wer hat irgendwas von nachts gesagt?«, fragte Dybbuk, der in Wirklichkeit genauso wenig erpicht darauf war, in den Brunnen zu klettern, wie Groanin. Das Gleiche galt auch für die anderen. Schließlich neigen Dschinn zur Klaustrophobie, was auf die unzähligen Anlässe zurückzuführen ist, bei denen Irdische sie in so genannten Wunderlampen gefangen gesetzt hatten. Nicht dass Dschinn sich nicht gerne in Lampen oder Flaschen aufhalten. Manche von ihnen – Mr Rakshasas zum Beispiel – schätzen diese Lebensweise sogar sehr. Aber wie alle anderen ziehen auch Dschinn es vor, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen und darüber, wann sie eine Flasche oder Lampe betreten oder verlassen.
»Nein, mein Junge«, sagte Groanin. »Wir können wohl schlecht am helllichten Tag hinunterklettern. Irgendjemand würde uns bestimmt sehen und sich fragen, was wir da tun. Nein, es muss heute Abend passieren. Nach dem Abendessen. Vorausgesetzt, es gibt hier so etwas wie Abendessen.«
Als wollte er Groanins Worte bestätigen, trat auf der anderen Seite des Hofes Jagannatha aus einer Tür und kam auf sie zu. »Q. e. d.«, sagte Groanin, wie jedes Mal, wenn er mit irgendetwas Recht behalten hatte, auch wenn keines der Kinder wusste, was er damit meinte.
»Hi«, sagte Jagannatha. »Wie läuft’s denn so?«
»Ich glaube, wir haben die arme Miss Crabbe überanstrengt «, sagte Groanin.
»Das hab ich gehört.« Jagannatha grinste. »Jetzt meditiertsie. Wahrscheinlich für den Rest des Tages. Deshalb wollte ich euch zu einem vorgezogenen Abendessen holen. Ich hab mir gedacht, dass ihr nach all der Anstrengung wahrscheinlich mächtig Hunger habt.«
»Weniger Hunger als Durst«, sagte Philippa findig und wies mit dem Kopf zum Brunnenschacht. »Wir haben uns gerade gefragt, ob in dem Brunnen noch Wasser ist.«
»Da unten?« Jagannatha spähte skeptisch in den Schacht. »Schon, aber ich würde es nicht trinken. Ehrlich gesagt würde ich hier überhaupt nichts trinken, das nicht aus einer Flasche oder einem sterilisierten Behälter kommt.«
»Wirklich?«, sagte Groanin.
»Jedenfalls«, fuhr Jagannatha fort, »seid ihr nach dem Abendessen für die Nachtschicht im Callcenter eingeteilt. Ihr müsst die Dingle-Computer-Hotline übernehmen.« Er zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Aber
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