Die Kinder des Ketzers
es wurde Nacht.
***
In den folgenden Tagen musste Fabiou zu seinem Erstaunen feststellen, dass seine Schwestern sich neuerdings nicht mehr nur für Jungs, Kleider und Ronsard zu interessieren schienen, sondern sich in der Tat mit ernsthafteren Themen auseinandersetzten. Nicht nur, dass sie seine Nachforschungen plötzlich mit großem Interesse verfolgten; beide stellten auch, jede auf ihre Art, eigene Untersuchungen an. Cristino vergrub sich zunehmend in ihre medizinischen Bücher, und das, obwohl es ihr mittlerweile selbst unrealistisch vorkam, Agnes auf medizinischem Weg loszuwerden. Momentan war sie geradezu fanatisch von der Theorie der Wahrsagerin überzeugt, dass sie Agnes’ Mörder finden musste, um dem armen Geist des Mädchens die verdiente Erlösung zu verschaffen. Dennoch, statt zu sinken stieg ihr Interesse für ihre «komischen 559
Quacksalberbücher», wie Catarino es nannte, beständig. Fast jede freie Minute schmökerte sie in Onkel Pierres alten Folianten. Heimlich und in ihrem Zimmer natürlich, ihre Mutter und Frederi hätten wohl die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, und Onkel Philomenus vermutlich einen Wutanfall bekommen, das war ja nun wirklich keine Lektüre für ein Mädchen. «Es ist einfach absolut faszinierend», meinte Cristino, die Nase in Paracelsus’ ARCHIDOXA vergraben. «Wusstest du, dass Paracelsus meint, jeder Mensch trägt einen Alchemisten in sich, der die Gifte, die wir stets mit der Nahrung zu uns nehmen, herausfiltert und den Körper so vor Krankheiten schützt?»
«Enorm faszinierend.» Catarino verdrehte die Augen, und als Cristino sie dann auch noch fragte, was sie von der Heilkraft des Antimons halte, floh sie mit auf die Ohren gepressten Händen. Catarinos Nachforschungen gingen in eine völlig andere Richtung. Sie entwickelte ein ganz neues Interesse für das Haus, in dem sie lebte. Offensichtlich war sie unermüdlich auf der Suche nach Dingen, die ihrem Vater gehört hatten. Wann immer sie sich in einem Raum allein wähnte, öffnete sie Schubladen und Schranktüren und kramte sich durch deren Inhalte, in der Hoffnung, auf eine Mantelspange, ein Messer oder eine Schreibfeder zu stoßen, die möglicherweise einmal durch Cristou de Bèuforts Hände gegangen waren. Einmal schlich sie sich heimlich in Oma Felicitas’ Salon, und dort nahm sie Cristous Degen von der Wand, zog ihn aus der Scheide und starrte lange auf die blitzende Klinge, bis irgendwann die Großmutter zur Tür hereinkam und sie hinauswarf. Fabiou beobachtete den neu erwachten Forschungsdrang seiner Schwestern mit gewisser Skepsis, das hieß, er hielt beide langsam für völlig übergeschnappt. Ansonsten war er eher guter Dinge. Sébastien brachte eine Nachricht, die ihn in all seinen Überlegungen bestätigte.
Er stand am Pfingstmontag, dem 30. Mai, vor dem Tor und forderte lautstark, mit Fabiou sprechen zu dürfen. «Tatatataaaa!», rief er, als dieser an der Tür erschien, wie ein Herold, der mindestens die Krönung eines neuen Königs verkündete, und ebenso strahlte er auch.
«Was ist denn mit dir los?», fragte Fabiou erstaunt. 560
«Baron de Bèufort», Sébastien zog den Hut und verneigte sich mit hoffähiger Eleganz, «ich bringe Neuigkeiten. Sensationelle Neuigkeiten.»
«Was für sensationelle Neuigkeiten denn?», fragte Fabiou stirnrunzelnd.
«Nun, ich habe mir gedacht, es würde nichts schaden, sich in Aix mal zum Thema Carfadrael umzuhören», meinte Sébastien grinsend. «Also bin ich in den letzten zwei Tagen von Pontius zu Pilatus getingelt und habe mich informiert – beim Aixer Adel, bei der Aixer Bürgerschaft, und beim Aixer Abschaum. Und mit umwerfendem Ergebnis.»
«Ja, und?»
«Also, eines zumindest kann man mit Sicherheit sagen: Für jemanden, der nichts als ein Märchen ist, das sich ein paar dumme Bauern ausgedacht haben, hat dieser Carfadrael ganz schön die Gemüter bewegt», antwortete Sébastien lakonisch.
«Du meinst also auch, er ist mehr als eine Legende?», fragte Fabiou aufgeregt.
«Mein lieber Fabiou, der Junge hat nicht nur dem Parlament von Aix erhebliche Kopfschmerzen bereitet, sondern auch die französische Krone beschäftigt. Auf seinen Kopf war ein Preis ausgesetzt, zweiPreise,umgenauzusein. Einen von der hiesigen Gerichtsbarkeit wegen Diebstahl, Volksverhetzung und Unterstützung ketzerischer Aktivitäten und einen von König François wegen Landesverrat.»
«Landesverrat?»
«Oh, der gute Carfadrael hat sich offensichtlich nicht nur damit
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