Die Kinder des Ketzers
Falke. Er landet auf der Hand des Mädchens, Cristino hört den Schlag seiner kraftvollen Flügel durch den Nebel, und das Mädchen blickt sie an. Schwarz sind seine Augen, schwarz wie der Himmel in einer mondlosen Nacht, schwarz wie Fenster in einen Abgrund so tief wie die Hölle. Cristino fuhr hoch. Licht schlug ihr entgegen, eine ganze Woge von Licht, Sonnenstrahlen, die durch das wankende Fenster ins Innere des Wagens fielen. Ein Schwanken und ein Rattern, ihr gegenüber das Gesicht ihrer Mutter, halb verborgen hinter dem Pfauenmusterfächer, der ihr aufs Kinn gesunken war. Ihr Gesicht war entspannt, der Kopf nickte mit jeder Erschütterung des Fahrzeugs, sie schlief.
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«Habt Ihr schlecht geträumt, meine Kleine?» Cristino sah zur Seite. Die Barouno de Buous blickte sie an, freundlich lächelnd.
«Ich… äh… na ja, schon…» Sie wurde vermutlich rot. Der Traum war ja auch wirklich zu seltsam gewesen. Die Krähe…
Gott, zu viele Krähen für einen Tag! Aber egal, nur ein Traum, der Wagen rattert, und draußen scheint die Sonne. Oh Gott, Gott sei Dank, es war nur ein Traum…
«So? Was habt Ihr denn geträumt?» Neugierig war die Buous ja gar nicht! Cristino versuchte sich an dem hohen Lachen, mit dem ihre Mutter immer Peinlichkeiten abzutun pflegte. «Ach, nichts Besonderes, ehrlich!» Sie wich dem Blick der älteren Dame aus, sah aus dem Fenster, auf die Felsen, die zu beiden Seiten in die Höhe kletterten. Man befand sich offenbar immer noch in der Coumbo. Die Ansicht war impressionant : Schroffe Wände, mit Pinien und garoulios bewaldet, Felsformationen wie von einem Riesen kreuz und quer aufgeschichtet. Träge ratterten die Räder der Kutsche den kurvigen Weg entlang, der den Maßgaben der Natur folgte, vorbei an einzeln aufragenden Steinspitzen, bizarren Felsüberhängen und kantigen Vorsprüngen. Kleine, bewaldete Seitentäler zweigten nach rechts und links ab; man erwartete fast, dass Raubgesindel aus dem Untergrund brach oder eine Wolfsmeute in die Schlucht preschte.
«Erzählt mir, was Ihr geträumt habt!» Die Stimme der Buous bebte in freudiger Erwartung. «Ich liebe es, Träume zu deuten. Ich kann es auch, eine weise alte Frau auf unserem Land hat mir beigebracht, wie das geht!» Cristino rümpfte innerlich die Nase. Wegen der weisen alten Frau zum Teil, das wusste schließlich jedes Kind, dass sich hinter den so genannten weisen alten Frauen meistens Hexenweiber verbargen – kaum zu glauben, dass eine Barouno wie die Buous mit so einer Kontakt pflegte. Aber vor allem, dass die Barouno sich so indiscret in ihre Träume mischte. Dennoch, Diskretion hin oder her, der Traum war so seltsam gewesen, dass es sie drängte, eine Erklärung dafür zu erhalten.
Sie erzählte. Draußen flog die Maserung der Felswände vorbei, an-und absteigend wie ein Schichtkuchen, den man in Stücke gebrochen und die Stücke dann einer unbegreiflichen Logik folgend aufeinandergetürmt hatte. Die Buous hatte den Kopf schief ge71
legt, als ob sie so besser hören könne, und lauschte ergriffen. «Das ist einfach», sagte sie, als Cristino geendet hatte. «Die Krähe, die sich an Euch vergreifen wollte, ist der Teufel, der nach Eurer Seele trachtet. Und die Jungfrau, die sie in einen Falken verwandelte, ist die Jungfrau Maria, die Euch vor dem Antichrist retten wird.» Die Buous lehnte sich zufrieden zurück. Cristino warf Fabiou, der spöttisch grinsend zum Fenster hereinlinste, einen bitterbösen Blick zu. Offensichtlich hatte er gelauscht! Fabiou schnitt ihr eine Grimasse und galoppierte voraus. «Aber die Krähe wollte sich nicht an meiner Seele vergreifen, sondern an meinem Körper», widersprach Cristino dann. «Und das Mädchen war nicht die Jungfrau Maria.»
«Woher wollt Ihr das wissen?», fragte die Buous.
«Sie sah nicht aus wie die Jungfrau Maria.»
«Papperlapapp! Woher wollt Ihr Kindchen wissen, wie die Jungfrau Maria aussieht?»
Und woher wollt Ihr es wissen? «Sie… sie war zu jung. Es war ein Kind, ein kleines Mädchen, so alt wie Frederi Jùli vielleicht.»
«Träume sind Allegorien, Kindchen. Natürlich erscheint Euch die Jungfrau nicht so, wie sie Euch vom Altarbild in der Kirche ansieht, sondern in symbolhaft abgewandelter Weise. Die Kindheit als reinste Form der Unschuld steht für die absolute Reinheit Mariae, versteht Ihr?»
Gott, warum meinen Erwachsene eigentlich, sie wüssten immer alles besser? Schließlich war es mein Traum! «Sie hatte nicht die Augen der Jungfrau Maria. Ihre
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