Die Kinder des Ketzers
auf die Tarotkarte. «Die Abbildung auf der Karte ist zweifellos ebenfalls einem Altarkelch nachempfunden. Wundert mich nicht. Messgeräte wurden schon immer gern für spiritistischen Quatsch missbraucht. Weil sie angeblich eine mystische Kraft haben.»
Fabiou starrte kopfschüttelnd auf die Karte. «Der Ritter der Kelche. Der Ritter des Grals. Carfadrael. Oh mein Gott, ich Idiot!»
Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. «Von wegen Hellseherei!
Dieser Mistkerl von einem Gaukler hat mir ein Rätsel aufgegeben!
Und ich habe es nicht mal gemerkt!»
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***
Juana schüttelte ungläubig den Kopf. «Wer?»
«Hannes. Den Akrobat. Ich muss ihn sprechen, sofort!», schrie Fabiou.
«Alle Welt will neuerdings Hannes sprechen. Und alle haben sie Haare wie ‘ne Karotte! Hannes! Komm mal her!»
Der junge Gaukler kam zwischen den Zelten hervorgetappt. Der lehmgraue Himmel warf einen schiefernen Ton auf sein sonnenverbranntes Gesicht. «Oh… hoher Besuch!», rief er erfreut aus.
«Womit kann ich dienen?»
«Tu nicht so unschuldig! Du weißt genau, warum ich hier bin!
Tarot, von wegen! Du hast mich angeschmiert! Dein Tarot, das war keine Wahrsagerei, das war eine verschlüsselte Botschaft!», schrie Fabiou wütend.
Hannes warf den Kopf zurück und lachte. Ein Windstoß fuhr in sein helles Haar. Bleiern hing der Himmel über den Zelten. «Ihr habt ganz schön lange gebraucht, das herauszufinden», rief er aus.
«Ich will jetzt die Wahrheit wissen! Was wolltest du damit sagen, mit dieser komischen Geschichte vom König der Schwerter und der Kelche? Was weißt du von der Bruderschaft? Und vor allem, was weißt du von den Morden?»
Gelb schimmerten die Bernsteinaugen im Zwielicht. «Was ich Euch sagen wollte, habe ich gesagt», sagte Hannes mit gesenkter Stimme. «Mehr erfahrt Ihr von mir nicht, so einfach ist das.»
«Ich warne dich!», schrie Fabiou. «Ich kann jederzeit zum Viguié
gehen und ihm sagen, dass du über die Morde Bescheid weißt, und dann bist du dran!»
Alles hatte die fahlgelbe Farbe des Himmels angenommen, das Gras, die Hügel, und Hannes’ Lächeln. «Das würdet Ihr nie tun», sagte Hannes.
«Ach. Und wie kannst du da so sicher sein?», rief Fabiou verärgert.
Hannes zuckte mit den Achseln. «Weil Ihr der Sohn von Cristou de Bèufort seid, deshalb.» Er wandte sich ab und schlenderte den Zelten zu. Hoch oben mischte sich düsteres Rot in das Schwefelgelb 691
des Himmels, wie Blutstropfen, die in schmelzendes Blei fallen.
«Ihr wollt die Wahrheit wissen?», rief Hannes über seine Schulter zurück. «Die Wahrheit ist, nichts ist, wie es scheint, und niemand ist, wer er vorgibt zu sein. Adiéu.»
Mit apokalyptischer Gewalt fuhr ein Windstoß nieder, und Fabiou stolperte rückwärts. Staub wirbelte auf, verdüsterte die Welt, am Himmel türmten sich brüllende Wolken zu blutroten Ungeheuern auf, schienen auf die Stadt zuzustürzen, schwarze Klauen nach den Dächern ausgestreckt, und verschlangen die Sonne, dass die Welt schwarz wie die Nacht zurückblieb. Fabiou riss die Arme vors Gesicht und floh auf die Stadtmauer zu. Und die Monster spien Feuer.
Schlagartig war die Welt in gleißendes Licht getaucht, die Stadtmauer flammte auf in grellem Schein, um sofort in undurchdringbare Nacht zurückzustürzen. Und dann brüllte der Donner los, ohrenbetäubend, markerschütternd, als hätten die Cherubim mit ihren flammenden Schwertern die Enden des Weltkreises verlassen und wandelten nun zerstörerisch über die Erde. Fabiou rannte, stürzte durch das Tor, an dem sich der Wächter starr vor Angst unter den Torbogen drückte, stolperte in die Carriero d’EsquichoMousco und rannte, während Blitz um Blitz auf die Stadt niederfuhr, blendendes Licht, in dem jedes Detail ihm scharf wie mit einem Messer gezogen entgegenleuchtete und der Donner über die Häuser hinwegrollte wie ein heulendes Untier.
Er schaffte es bis zur Plaço dei Gran Relogi. Dann setzte der Regen ein. Vielleicht stimmte das mit der Kugel, die die Erde sein sollte, ja doch nicht, und die Welt war in der Tat von einem Gewölbe überspannt, über dem das Weltmeer lag, und jetzt hatte Gott die Schleusen im Gewölbe geöffnet und ließ die Wasser hereinstürzen. Gerade so schien es zumindest. Das war kein Regen mehr, keine niederprasselnden Tropfen, eine Flutwelle war es, die da vom Himmel herabbrauste und Fabiou binnen eines Augenblicks bis auf die Haut durchnässte. Knöcheltief stand das Wasser auf den Straßen, strömte über den
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