Die Kinder des Ketzers
war nicht bei ihnen gewesen, er muss sich vor dem Waldstück von ihnen getrennt haben.» Couvencour rang nach Luft. «Bis wir unten auf der Straße ankamen, war Lucian tot. Wir begriffen zunächst überhaupt nicht, wie das hatte passieren kön1011
nen. Sie mussten von unserem Plan gewusst haben, und das konnte nur bedeuten, dass es einen Verräter in unseren Reihen gab. Der Einzige, der für uns in Frage kam, war Frederi, er hatte noch genug von dem Plan erfahren, um ihn zum Scheitern bringen zu können. Ironischerweise war es Archimède, der uns irgendwann nach Stunden aus unserer Erstarrung riss, indem er verkündete, er würde nach Santo Anno dis Aupiho reiten, er müsse seine Familie beschützen, falls das Söldnerheer dort vorbeizöge. Er bot Hector an, Justine und die Kinder mit sich zu nehmen, für den Fall, dass ihnen in Ais Gefahr drohte. Hector war ihm auch noch dankbar. Schließlich beschlossen wir, nach Merindou zu reiten. Es war längst Nacht geworden, und in Cadenet hatte das Söldnerheer bereits Aufstellung genommen, als wir uns auf den Weg machten. Wir schafften es in der Tat, Merindou rechtzeitig zu erreichen und die Menschen dort zu warnen. Aber was änderte das noch. Als wir Merindou verließen, brannten östlich von uns bereits die Dörfer. Wir ritten der Armee entgegen, in der irrigen Hoffnung, noch irgendetwas ausrichten zu können. Gott, wir ahnten nicht, dass Maynier neben den Waldensern noch jemanden anderen auf seiner Abschussliste hatte, nämlich die Bruderschaft.»
«Für Maynier hätte es nicht besser laufen können, was Euch betraf», meinte Fabiou. «Drei seiner zehn Todeskandidaten liefen ihm geradewegs in die Arme und wurden wie zufällig von seinen Söldnern getötet. Vier weitere konnte er als Ketzer ermorden lassen. Blieben drei – Couvencour, Tante Beatrix und Hector Degrelho. Und so wurde der Genevois auf den Weg gebracht.» Seine Finger spielten mit den zerfledderten Seiten von Pierres Buch. «Wann hat Pierre das hier geschrieben?», fragte er leise.
«Er hat damit angefangen, als wir nach Cabriero zurückkehrten», murmelte Rouland de Couvencour. «Cabriero war… das Schlimmste von allem. Es lebte kaum noch jemand. Cristou setzte sich einfach an den Straßenrand und weinte. Hector trat die ganze Zeit auf Trümmer am Wegesrand ein und stieß wüste Verwünschungen gegen Maynier aus. Und Pierre – er war so absurd vernünftig. Lief die ganze Zeit durch die Stadt, schaute in die Trümmer nach Spuren des Gemetzels und befragte die wenigen Überlebenden zu dem, was geschehen war. Das Büchlein hat er aus den Trümmern einer 1012
Buchbinderei gefischt. Und dann, am Abend, wir hatten irgendwo bei Roubioun unser Nachtlager aufgeschlagen, klebte er eine Kerze neben sich auf einen Felsen und begann zu schreiben. Wir hatten alle seit Tagen nur noch stundenweise geschlafen und waren halb tot vor Müdigkeit, aber dennoch schrieb Pierre die halbe Nacht durch, bis ihm vor Erschöpfung der Stift aus der Hand fiel. Er sagte, er müsse dafür Sorge tragen, dass diese Geschehnisse nicht vergessen werden, und er wisse nicht, ob er später noch Gelegenheit dazu haben werde. Irgendwie hat er geahnt, dass er nur noch wenige Tage zu leben hatte.»
«Und La Costo?», fragte Cristino.
«Als wir nach der Zerstörung von Cabriero zurück durch den Luberoun ritten, begegneten wir kurz vor La Costo einer Kutsche», berichtete Rouland. «Es war Justine mit den Kindern. Wenn wir uns die Geschichte, die sie erzählte, richtig angehört hätten, hätte uns klar werden müssen, dass Archimède ein falsches Spiel spielte. Er hatte sie losgeschickt mit der Begründung, Santo Anno dis Aupiho sei nicht mehr sicher, das Söldnerheer sei im Anmarsch, der Weg Richtung Ais sei verbaut und die einzige Möglichkeit sei, über die Coumbo nach Norden zu fliehen. Er schickte sie nur mit ihrem Kutscher und einem Diener voraus und behauptete, er selbst würde mit seiner Familie nachkommen. Wie Justine und die Kinder durch die Coumbo gekommen sind, ist mir bis heute schleierhaft, denn Archimède hatte sie Mayniers Armee geradewegs in die Arme geschickt. Justine litt an Schwangerschaftserbrechen, was ihm höchstwahrscheinlich klargemacht hatte, dass ein potentieller weiterer Erbe in Sicht war. Ich nehme an, er hoffte, Justine und Daniel würden den Söldnern in die Arme laufen und ein unverdächtiges Ende nehmen.»
Ein vergessenes Bild in den Tiefen von Cristinos Erinnerung, ihre Mutter, die schöne, blonde,
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