Die Kinder des Ketzers
haben, stark und mutig und edel wie…»
«Amen, wir beten», fuhr ihm Oma Felicitas ins Wort und ließ
sich auf die Knie fallen, in einer Geschwindigkeit, die keiner den alten Knochen mehr zugetraut hatte. «Ave Maria gratia plena benedicta est inter mulieris…», begann sie zu intonieren, und ebenso flink hatte sie einen Rosenkranz gezückt, schwarze Holzperlen an einer goldenen Kette, den sie nun abzuspulen begann. Catarino stöhnte leise, und die gesamte Verwandtschaft sank auf die Knie, abgesehen von Theodosius-das-Großmaul, der in seinem Vernichtungskrieg gegen die Weihwassergefäße fortfuhr. Oma Felicitas sandte ihm Blicke wie glühende Pfeile hinterher, während sie das Pater noster anstimmte.
Es war vermutlich Sünde, das zu denken, aber Cristino konnte nur inständig hoffen, dass sie nicht vorhatte, den ganzen Rosenkranz zu beten, denn der Weg vor den Gräbern war steinig, und abgesehen davon, dass ihr jetzt bereits die Knie wehtaten, hatte sie eines ihrer besten Kleider angezogen – um genau zu sein das Beste von denen, die sich für die Kirche schickten –, und sie schauderte bei der Vorstellung, dass dieses Kleid soeben unter ihren Knien von Steinen zerrieben wurde, dass Staub und hinterhältige Grasflecken sich in das zarte Seidengewebe eindrückten und hinterher ganz bestimmt nie wieder herausgingen. Sie schielte nach rechts, Tante Eusebia, ergebungsvolle Augen dem Himmel zugewandt, als erwarte sie jeden Moment, dass die Jungfrau persönlich herabstieg, sie emporzuholen, die Mutter, noch immer schniefend, ein Tränlein im Augenwinkel, Onkel Philomenus, der Großmutter bitter149
böse Blicke zuwarf, die diese geflissentlich übersah, Frederi, hatte sie ihn je mit so einer Inbrunst beten sehen, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, zitternde Hände ineinandergekrampft vor die Brust gepresst?
Dann hob sie den Kopf und blickte auf die Grabsteine. Sie mochte Grabsteine nicht. Das lag daran, dass sie Friedhöfe nicht mochte, so wie sie alles nicht mochte, was mit Tod zu tun hatte. Beatitudo Avingou, das musste Omas jüngere Schwester sein, Tante Beatitudo, von der die Mutter manchmal erzählte. Die arme Tante Beatitudo, sagte sie meist, nicht weil sie schon tot war, sondern weil ihr Vater, der Cavalié Martin de Valoun, sie aus Geldnot einem reichen Bürgerlichen zur Frau gegeben hatte, eben jenem Rouland Avingou, der neben ihr lag. Pierre Avingou musste ihr Sohn sein, sie hatten einen Sohn, der früh starb, und eine Tochter, wie hieß sie noch? – die Nonne war und in Rom lebte. Aber wer war es, der zwischen den Valouns und Robon d’Auban ruhte?
Unserer angebeteten Tochter Fortuna…
Geboren 1488, gestorben 1504. Sechzehn Jahre alt geworden. Sechzehn.
Die Angst griff nach ihr wie eine Totenhand aus einem frisch aufgeschütteten Grab. Sie spürte, wie ihre Kehle sich verengte, die Atemzüge aus ihrer Lunge aussperrte, ich will nicht sterben, Mama, hilf mir doch, Mama Mama Mama.
Sie hatten Glück. Nach dem schmerzensreichen Rosenkranz war Oma Felicitas offensichtlich der Meinung, dass der Pflicht Genüge getan war, und sie kämpfte sich ächzend wieder auf die Knie. «Na, Gott sei Dank», murmelte Catarino und klopfte sich den Staub vom Kleid – ebenfalls eines ihrer besten und was Farbe und Ausschnitt betraf eigentlich gerade nicht mehr schicklich für die Kirche. «Cristino, komm, was ist?… Cristino?»
Cristino taumelte auf die Füße, kalkweiß ihr Gesicht und ihre Hände, sie griff nach Catarinos Arm, klammerte sich schwankend an ihr fest.
«Ist etwas, Kind?», fragte Oma Felicitas, den Kopf zur Seite geneigt, um ihr ins Gesicht schauen zu können. «Ist dir nicht wohl?»
Cristino starrte auf den Grabstein. Filiae adoratae Fortunae Valonae. «Wer… wer war sie?», fragte sie. 150
Die Großmutter folgte ihrem Blick. «Fortuna.» Sie lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. «Sie war meine Schwester, meine jüngste Schwester.» Sie lachte auf, was irgendwie auch nicht viel fröhlicher klang. «Eine Marotte meines Vaters. Er hat sich so sehr gewünscht, dass wir glücklich werden, also hat er uns diese Namen gegeben – Felicitas, Beatitudo, Fortuna. – Das heißt alles drei soviel wie Glück, liebe Schwiegertochter», sagte sie zu Tante Eusebia gewandt, die sie mit großen, verwunderten Augen anblickte. Oma Felicitas lachte wieder. «Die glücklichen Schwestern, so haben sie uns genannt. Die glücklichen Schwestern, oh ja.» Sie stieß zischend die Luft zwischen den gelben
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