Die Kinder des Ketzers
Papier mal sehen», meinte er. Antonius zuckte mit den Achseln und reichte ihm das Papier.
«Bitte schön», sagte er mürrisch. Er wirkte etwas in seiner Ehre gekränkt.
Fabiou betrachtete das Papier mit einem äußerst intensiven Stirnrunzeln – Hauptsache, alle sehen, wie er denkt, murmelte Catarino genervt. Dann hob er schulmeisterlich einen Finger. «Wie sagte mein weiser Lehrer Bruder Antonius immer? Wer Antworten finden will, muss die richtigen Fragen stellen, oder?»
«Haha», machte Bruder Antonius. «Und, Fabiou?», spottete er. «Was sagt der große Logiker? Was sind die entscheidenden Fragen?»
Fabiou räusperte sich, seine Augen glänzten. Er fühlte sich offensichtlich in seinem Element. «Fangen wir mit dem Äußerlichen an, bevor wir zum Kern des Problems vorstoßen», erklärte er. «Was macht dieses Schriftstück so unverständlich?»
«Dass es jeder klaren Linie entbehrt», antwortete Antonius.
«Ad unum», bestätigte Fabiou.
«Dass wesentliche Informationen fehlen – er schreibt ‹er›, ‹die Frau›, ‹die Mutter›, ohne je zu erklären, wer, welche Frau, wessen Mutter», fuhr Antonius fort.
«Ad altrum. Genau. Nun zur entscheidenden Frage: Warum schreibt er so unverständlich?»
«Weil er irre ist», sagte Catarino und verdrehte die Augen. 173
Fabiou hatte bereits den Mund zu einer scharfen Entgegnung geöffnet, besann sich aber eines Besseren. «Nun gut, das ist eine mögliche Erklärung», sagte er widerwillig.
«Ich denke, er hatte gar kein Interesse daran, dass jemand anderes diesen Text versteht», meinte Bruder Antonius. «Ich bin mir sicher, dass er diese Zeilen nur für sich selbst geschrieben hat, so wie es ihm gerade in den Sinn kam. Daher gab es für ihn gar keinen Grund, auf einen logischen Aufbau zu achten.»
«Nun, das ist natürlich denkbar», meinte Fabiou. «Andererseits, der letzte Satz wieder – ‹Dies schreibt H. Trostett› und so weiter, das klingt fast wie ein Testament, oder? Nun gut», sagte er dann mit einer heftigen Handbewegung, «schauen wir uns als nächstes den Inhalt des Schreibens an. Was erfahren wir aus diesem Schriftstück?»
«Ich habe es mir unter diesem Gesichtspunkt gestern bereits durchgelesen», erklärte Antonius, sichtlich um seine Ehre als Logiker bemüht. «Letztlich geht es die ganze Zeit um eine Schuld-und Versündigungsthematik. Ein Verbrechen wurde begangen – und dieser Mann hielt sich für schuldig und suchte verzweifelt nach irgendeiner Form von Absolution, die er letztlich meinte, nur im Tod finden zu können.»
«Also doch Selbstmord!», meinte Catarino zufrieden.
«Hm – gehen wir das Schreiben noch einmal Absatz für Absatz durch…», schlug Fabiou vor. «Es geht damit los, dass er schreibt, irgendwohin zurückgekommen zu sein, wo er offensichtlich früher einmal war und zwischenzeitlich längere Zeit nicht. Fragt sich, wohin…»
«In die Prouvenço?», schlug Antonius vor. «Er war schließlich Deutscher. Vielleicht war er früher bereits auf Reisen hier in der Gegend und dazwischen längere Zeit in seiner Heimat.»
«Möglich…», murmelte Fabiou nachdenklich. «Im Weiteren geht es dann um eine Erinnerung an einen Menschen, den er als Carfadrael bezeichnet.»
«Halt!» Bruder Antonius hob warnend den Zeigefinger. «Das wissen wir nicht. Er schreibt nicht, dass Carfadrael ein Mensch sei. Es könnte etwas völlig anderes sein – ein Ort, ein Pferd, eine Institution…»
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«Gut. Es geht also um eine Erinnerung, und diese Erinnerung trägt einen Namen. Carfadrael. Was ist das für ein Name? Er klingt so – biblisch.» Fabiou sah Antonius fragend an.
«Die Silbe -el steht im Hebräischen für Gott», erklärte Antonius. «Gabriel, Michael, Israel, Bethel, Immanuel… es gibt viele Namen, die diese Silbe in sich tragen, deswegen kommt es dir so bekannt vor. Dennoch, der Name Carfadrael bedeutet schlicht und ergreifend gar nichts! Die ersten drei Silben geben weder im Hebräischen noch im Lateinischen oder Griechischen oder in sonst einer Sprache, die ich kenne, einen Sinn. Und in der Bibel kommt dieser Name ganz gewiss nicht vor!»
«Ein Rätsel mehr also.» Fabiou seufzte. «Im Weiteren schreibt er in diesem Abschnitt davon, dass er versäumt habe, etwas zu tun, was offensichtlich andere in die Lage versetzt hätte, es aufzuhalten, was immer es war, oder zumindest sich selbst zu retten. Und ziemlich unzusammenhängend mittendrin dieser Satz mit den zwei Todesurteilen – eines an Quasimodo und eines
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