Die Kinder des Saturn
Kurz vor der Ankunft in Lowell rufe ich ein öffentliches Dienstleistungsunternehmen an, das alle möglichen Aufgaben erledigt, mit der Firma Jeeves jedoch keine Geschäftsbeziehungen unterhält, weil es in der Hierarchie weit unter Jeeves angesiedelt ist. »Ich brauche jemanden, der ein Päckchen aus einem Pensionszimmer abholt und es einer dritten Partei zustellt«, sage ich, übermittle ihnen die Personalangaben für Maria Montes Kuo und bezahle mit Marias Kreditkarte. Als ich aus der Bahn aussteige, lasse ich die Karte im Abfallrecycler des Salonwagens zurück. Mir blieb keine andere Wahl, als den Seelenfriedhof entweder an Samantha in Denver oder an Raechel in Kuala Lumpur überstellen zu lassen. Im Augenblick sind also nur noch Juliette und ich übrig … und der seltsame Seelenchip, den Jeeves mir geschickt hat.
Am besten würde ich mir auf der Stirn in Spiegelschrift Schwachkopf eintätowieren lassen … In Lowell verweile ich so lange in einem der Schreine für Reisende, bis ich meine neuen Klamotten angezogen und Juliettes Chip durch den neuen ersetzt habe. Danach mache ich mich auf den Weg zur Abflughalle, um auf die
Anschlussmaschine zu warten, und nutze die Zeit für ein halbstündiges Nickerchen.
Ich hatte nicht damit gerechnet, mich mit Hilfe von Träumen so schnell in Juliettes Seele hineinversetzen zu können, schon deswegen nicht, weil ich ihren älteren Chip gerade durch eine neue Version ersetzt habe. Aber derzeit gehen meine Erwartungen anscheinend oft an dem vorbei, was mir tatsächlich passiert. Ob ich will oder nicht, weiß ich plötzlich, wie es ist, in Juliettes Haut zu stecken, und verfüge auch über ihre Erinnerungen, von den jüngsten bis zu den ältesten. Besonders ausgeprägt ist die Erinnerung daran, wie Juliette in Jeeves’ Pilotenkabine umherschwebt und über den Seelenchip nachdenkt, den sie ihm gerade ausgehändigt hat. (Allerdings verblüfft mich das alles ein wenig: Es ist so, als blicke man in einen Spiegel und betrachte den eigenen Hinterkopf.)
»Danke, meine Liebe«, sagt Jeeves und verstaut den Chip sorgfältig in einer Tasche seines makellos geschnittenen Jacketts. »Auch sie , wer immer sie sein mag, wird Abenteuer erleben.«
»Jetzt gehst du zu weit, Boss«, wirft Daks ein. Und zu mir gewandt: »Ist dir eigentlich klar, dass es ihm nicht ausreicht, unsere Arbeit für seine ganz persönlichen Zwecke auszunutzen? Jetzt versucht er das auch noch mit unseren Identitäten …«
»Halt die Klappe, kosmischer Spürhund!«, erwidert Jeeves nicht unfreundlich. Er wirft mir – Juliette – einen Blick zu und zieht ein finsteres Gesicht. »So wie er redet, könnte man glatt meinen, wir wären seine Eigentümer .«
»Hunde, die bellen, beißen nicht«, erwidere ich automatisch und hoffe schon die ganze Zeit über verzweifelt, dass Jeeves nicht weiß, was er in den Händen hält – besser gesagt: was er nicht in den Händen hält. Denn falls er es weiß, könnte mir Übles drohen. »Was kommt als Nächstes?«
Jeeves lächelt und reicht mir einen neuen Seelenchip. »Sie können ihn ruhig schon einlegen. Ihr nächster Auftrag …«
Ich – Juliette – schlage die Augen auf. (Was innerhalb eines Traumes bizarr und beunruhigend ist, ich weiß, aber lesen Sie bitte trotzdem weiter, ja?)
Wir sitzen auf einer Chaiselongue am Ende eines großen Ballsaals – Inbegriff dessen, was sich irgendein Aristo auf dem Mars unter Dekadenz vorstellt. Irgendjemand, unsere geheimnisvolle Gastgeberin, veranstaltet mit gewaltigem Aufwand eine Riesenparty. Ich nehme unter einer ausgeklügelten, kostspieligen Deckidentität daran teil, in der ich mich so gut bewegen kann, als hätte ich sie schon früher benutzt; allerdings weiß ich nicht, wann und wo. Es ist eine Themenparty in historischen Kostümen. Unsere Gastgeberin ist in die Rolle der Geliebten eines südamerikanischen Diktators geschlüpft. Diese Mätresse hat am Vorabend eines verheerenden Krieges einen großen Ball gegeben und von allen Adligen ihres Landes verlangt, daran teilzunehmen. Auch deren Frauen und Töchter wurden eingeladen und erschienen in vollem Ornat, behängt mit dem Familienschmuck. Unsere Gastgeberin hat weder Kosten noch Mühe gescheut, das historische Ereignis bis ins letzte Detail wiederauferstehen zu lassen. Wir alle tragen Kostüme, wie sie am Hofe von Eliza Lynch Mode waren. Solange keine Exekutionskommandos draußen im Hof warten, bin ich schon zufrieden. Selbstverständlich sind die Diamanten auf meinen mit
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