Die Kinder Von Eden : Roman
ließ die Kassette anlaufen.
Judy seufzte. Im Grunde brannte sie darauf zu erfahren, was Simon über die Kinder von Eden herausgefunden hatte. Doch falls Kincaid zu Ohren kam, daß Simon zuerst mit ihr statt mit Marvin gesprochen hatte, wäre die Hölle los.
Die Stimme der Frau sagte: »Hier sind die Kinder von Eden mit ‚ner Botschaft an Gouverneur Mike Robson.«
Simon stoppte das Band und schaute Bo an. »Was hatten Sie vor Augen, als Sie das zum erstenmal gehört haben?«
Bo grinste. »Ich habe mir eine große Frau vorgestellt, ungefähr fünfzig, mit sattem, breitem Lächeln. Irgendwie sexy. Ich weiß noch, daß ich dachte, wie gern ich diese Frau …«, er warf einen Blick auf Judy und beendete den Satz: »… kennengelernt hätte.«
Simon nickte. »Sie haben ein gutes Einschätzungsvermögen.Ungeübte können viel über einen Menschen aussagen, wenn sie nur dessen Stimme hören. Natürlich weiß man fast immer, ob es die Stimme einer Frau oder eines Mannes ist. Aber außerdem kann man auch das Alter, die ungefähre Größe und den Körperbau des Sprechers ziemlich genau abschätzen. Manchmal lassen sich sogar Vermutungen über den Gesundheitszustand anstellen.«
»Da ist was dran«, sagte Judy, die wider Willen fasziniert war. »Sobald ich am Telefon eine Stimme höre, stelle ich mir ein Gesicht dazu vor, selbst wenn nur die Ansage des Anrufbeantworters läuft.«
»Weil der Klang der Stimme vom ganzen Körper getragen wird.Tonhöhe, Lautstärke, Resonanz, Rauheit – sämtliche stimmlichen Merkmale haben physische Ursachen. Hochgewachsene Menschen besitzen einen längeren Stimmtrakt, alte Leute haben steiferes Gewebe und härtere Knorpel, und bei Kranken ist häufig der Rachen entzündet.«
»Das leuchtet mir ein«, sagte Judy. »Ich habe bloß noch nie darüber nachgedacht.«
»Mein Computer nimmt dieselben Hinweise auf wie das menschliche Ohr, ist aber genauer.«
Simon zog einen getippten Bericht aus dem Umschlag, den er mitgebracht hatte. »Die Frau ist zwischen siebenundvierzig und zweiundfünfzig Jahre alt. Sie ist groß – eins zweiundachtzig, plus/minus drei Zentimeter. Und sie ist übergewichtig, aber nicht fettleibig. Wahrscheinlich der Typ Frau, den man als üppig bezeichnet. Sie raucht und trinkt, ist aber gesund.«
Judy war ebenso besorgt wie aufgeregt. Obwohl sie wünschte, sie hätte Simon gar nicht erst zu Wort kommen lassen, war es doch faszinierend, mehr über die Frau zu erfahren, der diese Stimme gehörte. Simon schaute Bo an. »Und Sie haben recht, was das satte, breite Lächeln angeht. Die Frau hat eine große Mundhöhle, und ihre Aussprache ist nur wenig labial – beim Sprechen von Konsonanten spitzt sie kaum die Lippen.«
»Die Frau gefällt mir«, sagte Bo. »Sagt Ihr Computer auch, ob sie gut im Bett ist?«
Simon lächelte. »Sie empfinden diese Frau deshalb als sexy, weil ihre Stimme einen rauchigen Beiklang hat. Das kann ein Zeichen sexueller Erregung sein. Wenn es sich aber um ein permanentes Merkmal handelt, ist es nicht unbedingt ein Hinweis auf Sinnlichkeit.«
»Ich glaube, da liegen Sie verkehrt«, sagte Bo. »Sexy Frauen haben sexy Stimmen.«
»Starke Raucherinnen ebenfalls.«
»Hm, ja, das stimmt.«
Simon spulte das Band bis zum Anfang zurück. »Jetzt achten Sie mal auf ihren Akzent.«
»Simon«, protestierte Judy, »ich glaube wirklich nicht, daß wir …«
»Hören Sie einfach nur zu. Bitte!«
»Schon gut, schon gut.«
Diesmal spielte Simon die ersten beiden Sätze ab. »Hier sind die Kinder von Eden mit ‚ner Botschaft an Gouverneur Mike Robson. Scheiße, ich hätte nicht erwartet, mit einem Tonbandgerät zu sprechen. Ein verdammter Recorder.«
Simon stoppte das Band. »Natürlich ist es ein Akzent aus Nordkalifornien. Aber ist Ihnen noch etwas aufgefallen?«
Bo sagte: »Sie stammt aus der Mittelschicht.«
Judy runzelte die Stirn. »Ich finde, sie hört sich nach Oberschicht an.«
»Sie haben beide recht«, sagte Simon. »Zwischen dem ersten und dem zweiten Satz verändert sich ihre Aussprache.«
»Ist das ungewöhnlich?« fragte Judy.
»Nein. Die meisten von uns erwerben ihre Sprechweise inihrem ursprünglichen sozialen Umfeld und passen sie später ihre neuen Lebensumständen an. Gemeinhin versuchen sie dabei, sich aufzuwerten. Ein Aufsteiger will gebildeter klingen, als er ist; Neureiche reden daher, als gehörten sie zum alten Geldadel. Manchmal läuft es auch andersherum. Zum Beispiel, wenn ein Politiker aus einer Familie der Oberschicht
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