Die Kinder von Estorea 02 - Der magische Bann
keine Neuigkeiten, sondern signalisierten lediglich Sieg oder Niederlage. Jenseits des Meeres aber lag die große Unbekannte. Gestern. Sie wusste nicht, ob Katrin Mardov die Tsardonier an ihren Grenzen zurückwerfen konnte, oder ob Roberto ihr zu Hilfe gekommen war. Gott umfange sie, es war nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch lebte, ob Jhered ihn gefunden hatte und ob sich die Aufgestiegenen noch in der Obhut des Schatzkanzlers befanden.
»Oh Roberto«, flüsterte sie. »Was wirst du tun?«
In Zeiten wie diesen fiel es ihr trotz ihres großen Vertrauens zu ihrem Lieblingssohn schwer, nicht den Glauben zu verlieren. Alle, auf die sie sich in Friedenszeiten so fest verlassen konnte, verblassten in den dunklen Träumen und Visionen, die sie Tag und Nacht heimsuchten, zu schwachen Sterblichen.
»Das Warten zehrt am stärksten an der Willenskraft, nicht wahr?«
Herine kehrte dem Balkon den Rücken und drehte sich zur großen Galerie mit ihren Gemälden, Wandbehängen und Statuen aus allen Regionen der Konkordanz um. Es kostete sie große Mühe, die Sprecherin lächelnd zu begrüßen.
»Kanzlerin Koroyan«, sagte sie. »Seid Ihr gekommen, um meiner besorgten Seele Trost zu spenden?«
»Wie könnte ich der Konkordanz besser dienen?« Würdevoll näherte sich die Kanzlerin.
Sie trug eine formelle Toga mit der grünen Schärpe der Konkordanz und dem aufgestickten Blattwerk, das ihr Amt symbolisierte. Ihre Sandalen raschelten auf dem glatten Stein, und ihre Augen funkelten wie die Juwelen ihrer Tiara. Trotz des kühlen Windes, der durch die offenen Türen der Galerie wehte, trug sie weder Stola noch Umhang über den bloßen Armen. Wie immer bot sie einen beeindruckenden Anblick. Herine nahm sich vor, größte Umsicht walten zu lassen.
»Es ist still in der Stadt.« Die Advokatin wandte sich wieder zum Balkon um.
Die Dusassonne brach durch die graue Wolkendecke, und die morgendliche Kälte ließ ein wenig nach. Estorr war bei Weitem nicht so geschäftig wie sonst. Eine bedrückte Stimmung lag über der Stadt, und allenthalben waren die Ängste der Menschen zu spüren. Der einst so feste Glaube an die Stärke der Legionen war ernsthaft erschüttert. Unsicherheit hatte Selbstgefälligkeit und übergroßes Selbstvertrauen verdrängt.
»Aber das überrascht Euch doch nicht, oder?«, fragte die Kanzlerin, als sie neben die Advokatin trat.
»Natürlich nicht. Auch ich muss zugeben, dass ich von Zeit zu Zeit ungute Gefühle habe, Felice.«
»Das ist nicht unnatürlich. Der Allwissende ist zornig. Er hat sich von uns abgewandt, und der Nebel verbirgt die Feinde vor unseren Blicken.«
Herine schnaubte. »Oh Felice. Ich könnte Euch viel mehr achten, wenn Ihr nicht so aufgeblasen wärt.«
Die Miene der Kanzlerin war so kalt wie der Dusas.
»Nun macht nicht so ein Gesicht«, fuhr Herine fort. »Ihr müsstet Euch reden hören. Ihr erzeugt Angst, wo es keine geben sollte.«
»Gewiss werdet Ihr, meine Advokatin, mir darin zustimmen, dass der Allwissende den Nebel vertrieben hätte, wenn er in unserem Kampf gegen die Tsardonier auf unserer Seite stünde. Jetzt aber fördert er sogar ihren Aufmarsch gegen uns und beschleunigt unseren Untergang.«
Herine schüttelte den Kopf. »Nein, dem kann ich nicht zustimmen. Der Nebel des Dusas ist ein Wetterphänomen, das unsere Wissenschaftler schon vor langer Zeit erforscht haben. Leider führen wir zu einer ungünstigen Zeit Krieg, und die Tsardonier wussten ihren Vorteil zu nutzen. Das Glück wird sich aber wenden, die Ocetanas werden ausbrechen. Neratharn wird durchhalten, bis Roberto eintrifft. Wir werden siegen.«
»Gott bestraft uns, weil Ihr die abscheulichen Aufgestiegenen beschützt«, sagte die Kanzlerin. »Die Konkordanz kann nur gerettet werden, wenn Ihr Euch von ihnen lossagt.«
Ein fast überwältigender Zorn brandete in Herine auf.
»Statt den Glauben und die Ruhe zu predigen, schürt Ihr Ängste und versetzt die Bürger von Estorr und Gott weiß in wie vielen anderen Ländern in Angst und Schrecken. Warum müsst Ihr das Land spalten?«
»Weil wir nicht nur dann dem Glauben an den Allwissenden treu bleiben sollten, wenn es uns gerade passt. Entweder wir glauben, oder wir tun es nicht. Vielleicht solltet Ihr Euch fragen, auf welcher Seite Ihr steht, Advokatin. Allerdings wäre es vorzuziehen, wenn ich der lebenden Verkörperung Gottes auf Erden diese Frage gar nicht erst stellen müsste.«
»Treibt es nicht zu weit, Felice. Und schaut hinab, bevor Ihr
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